Seltsame Wissenschaft
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Fast erstaunlich der Vorstoß der Köln-Bonner Rundschau, den ich heute morgen gefunden und auf die Nachrichtenseiten gestellt habe!
Die Ergebnisse der Untersuchung von Prof. Harald Marx beweisen überzeugend, was auch ohne wissenschaftliche Untersuchung jedem einigermaßen vernünftigen Menschen vollkommen klar sein müßte, nämlich daß die Rechtschreibreform ein kompletter Mißerfolg ist und mehr Schaden anrichtet, als sie Nutzen zu bringen jemals selbst behauptet hatte.
Erstaunlich ist nur, daß es für Wissenschaftler so schwer zu sein scheint, ebenso klarsichtig zu sein in den Konsequenzen, die sie aus ihren klarsichtig angestellten Untersuchungen ziehen.
»Ein Zurückdrehen der Reform kommt schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht in Frage«, sagt Marx. Jetzt fehlt aber eine umfassend und langfristig angelegte wissenschaftliche Untersuchung über die wirtschaftlichen Konsequenzen einer sofortigen und völligen Abschaffung der als verfehlt erkannten Reform. Möglicherweise würde sich dabei herausstellen, daß diese wirtschaftlichen Konsequenzen nicht schädlicher wären, gesamtwirtschaftlich und -gesellschaftlich gesehen, als das jetzt vor uns liegende jahre- und möglicherweise jahrzehntelange Weiterwursteln mit einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Schreibverhalten auf allen Ebenen, von der simplen Geschäftskorrespondenz bis hin zu literarischen und wissenschaftlichen Texten. Alle diese Texte werden für jeden, insbesondere aber auf internationaler Ebene, immer schwerer rezipierbar, und das hat natürlich auch wirtschaftliche Folgen. Man wird Mißverständnisse und Fehler nicht vermeiden können, und Deutsch wird zusehends an Akzeptanz verlieren. Das in sich widersprüchliche Deutsch, dessen gesamtes in den letzten gut 100 Jahren entstandene Schrifttum, auf das man ja weiterhin zugreifen muß, »falsch« ist, wird als Verkehrs- oder Wissenschaftssprache noch schneller unbeliebt sein, als es jetzt ohnehin schon sich abzeichnet. Kinder werden noch inkompetenter werden im Lesen und Schreiben, d.h. der PISA-Effekt wird fortgeschrieben. Wenn die Kinder dann erwachsen sind, ist die Inkompetenz allgemein. Wie rechnet sich solcher Schaden wissenschaftlich?
Man wird viel Geld in die Wissenschaften investieren, um Lösungen zu erarbeiten. Wenn die Wissenschaftler dann wirklich klarsichtig sind, werden sie Stück um Stück die Rechtschreibung wieder weitgehend so regeln, wie sie bis 1998 ausgesehen hat, und dies dann als geniale Reform feiern. Bis dahin wird das aber viel mehr kosten, als wenn man jetzt einfach die herkömmliche Rechtschreibung wieder einführen würde. Da Marx ohnehin meinte, »die Lehrer sollten das Nebeneinander von alten und neuen Schreibweisen zum Unterrichtsthema machen«, könnte man es sich doch viel einfacher machen, indem die Lehrer, solange sie noch mit den jetzt vorhandenen »reformierten« Schulbüchern arbeiten, den Kindern erklären, daß gewisse Schreibweisen hier falsch sind. Beim systematischen Verbessern falscher Schreibweisen, kann man optimal und nachhaltig die richtigen lernen. Und gleichzeitig sollten die Lehrer den Schülern erklären, wie es dazu gekommen ist. Damit wäre das auch ein Lehrstück in Sozialkunde sozusagen.
__________________
Walter Lachenmann
|