Kleingläubigkeit
Professor Ickler schrieb: Es ist sonderbar, daß in Deutschland der Glaube verbreitet ist, ohne ein staatlich approbiertes Rechtschreibbuch würde alles drunter und drüber gehen. (...) Ohne das vertraute Gängelband glaubt man hilflos und verlassen zu sein. Kleingläubigkeit nenne ich das.
Natürlich bin ich realistisch genug, um die Kirche im Dorf zu lassen. Nicht jeder Lehrer kann den vollen Überblick haben, wie man schreibt. Dazu gibt es dann die deskriptiven Hilfsmittel zum Nachschlagen.
Bis 1996 wußte ich als Deutschlehrer an einer Berufsschule, aber dennoch wie fast alle Berufsschullehrer als Nichtgermanist, nicht, daß es neben dem Duden auch noch andere konkurrierende Rechtschreibwörterbücher gab. In den Deutsch-Lehrplänen hieß es, daß man sich nach dem Duden zu richten habe. Ich gehe deshalb davon aus, daß nur sehr wenige Lehrer, auch Germanisten, alternative Wörterbücher kannten und für den Deutschunterricht benutzten. Nachdem die Kultusminister 1996 das Duden-Privileg aufhoben und die sogenannte Rechtschreibreform einführten, erschienen eine Reihe neuer Rechtschreibwörterbücher auf dem Markt. Im März 1997 verglich die FAZ neun neue Wörterbücher miteinander: Bertelsmann von Juli 1996, Bertelsmann vom November 1996, Wahrig, Duden, Duden: Universal-Wörterbuch, Bünting (Aldi), Bedürftig (bei Eduscho), Trautwein und Deutsches Wörterbuch (Uni Essen). Die FAZ stellte eine lexikalische Konfusion fest. Erst dadurch wurde ich allmählich darauf aufmerksam, daß es auch schon vor 1996 Wörterbücher gab, die trotz des Duden-Privilegs mit dem Duden konkurrierten. Ich nenne eine Auswahl:
- Hermann, Ursula / Leisering, Horst / Hellerer, Heinz: Knaurs Großes Wörterbuch der deutschen Sprache. Der große Störig. München, 1985
- Kempcke, Günter et al. (eds.): Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (HDG). In zwei Bänden. Berlin (1984)
- Klappenbach, Ruth / Steinitz, Wolfgang (eds.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG). Berlin. (1961 1977)
- Knaurs Rechtschreibung, München/Zürich 1973
- Kraemer, Rolf (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, Mit Silbentrennung und Phonetik. Unter Mitarbeit von Helga Hahn, Jürgen R. Brandt und J. Reichberg, Wiesbaden: R. Löwit GmbH, 1980
- Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart 1997 (= Nachdruck der Auflage von 1987)
- Lexikon der deutschen Sprache, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1969
- Mackensen, Lutz: Deutsches Wörterbuch, 12. Auflage, Bindlach: Gondrom-Verlag, 1991
- Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. Tübingen, Niemeyer-Verlag, 1992
- Pekrun, Richard: Das deutsche Wort, bearbeitet von Franz Planatscher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden, 12. Auflage, Bayreuth: Gondrom Verlag, (1985)
- Störig, Hans Joachim: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1990
- Ullstein Lexikon der deutschen Sprache. Wörterbuch für Rechtschreibung, Silbentrennung, Aussprache, Bedeutungen, Synonyme, Phraseologie, Etymologie, (1969)
- Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1971
Der Glaube bzw. der Kleinglaube oder die angebliche Kleingläubigkeit beruhte bei näherer Betrachtung früher folglich oft auf Unwissenheit, und das Gängelband war die Folge staatlicher Reglementierung durch die Kultusminister, d.h. des bisherigen Duden-Privilegs.
Im Gegensatz zu damals wären aber heute alle Schreiber, Lehrer und Germanistikprofessoren, die sich trotz eines infolge der Aufklärung über die sogenannte Rechtschreibreform viel besseren Wissensstandes an das mangelhafte Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung der Kultusminister halten, viel eher als gegängelte Kleingläubige zu bezeichnen, sofern sie sich kritik- und widerstandslos dieser politisch korrekten, aber als äußerst mangelhaft erkannten Reform bedingungslos unterwerfen.
Aber wie wäre es wohl gewesen, wenn vor 1996 wenigstens den Deutschlehrern die oben genannten deskriptiven Hilfsmittel zum Nachschlagen alle bekannt gewesen wären? Hätten sie zur Korrektur von Deutschaufsätzen mehrere Wörterbücher herangezogen oder hätten sie sich auf ein einziges Wörterbuch verlassen? Auf welches Wörterbuch hätten sie sich stützen sollen? Die Entscheidung der Kultusminister, den Lehrern den Duden als maßgebende Rechtschreibinstanz vorzuschreiben, wurde sicherlich aus der Unterrichts-, Korrektur- und Prüfungspraxis heraus geboren, um eine gewisse Einheitlichkeit herbeizuführen und Korrekturen möglichst verwaltungsgerichtsfest zu machen. Damit ist es aber nun vorbei; denn das seit 1996 geltende Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung der Kultusminister ist eine staatliche Reglementierung anderer Art. Es hat infolge seiner mangelnden Logik, Widersprüchlichkeit und Praxisferne zu einer Beliebigkeitsschreibung geführt, die wohl fast alle Schreiber, insbesondere die Lehrer, ablehnen.
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Manfred Riebe, OStR, Dipl.-Kfm.
Beisitzer des VRS Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V.
- Initiative gegen die Rechtschreibreform -
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg
Netzbrief: Manfred.Riebe@raytec.de
Netzseiten: http://www.vrs-ev.de
http://www.deutsche-sprachwelt.de
http://Gutes-Deutsch.de/
http://www.rechtschreibreform.com
http://www.raytec.de/rechtschreibreform/
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/VsRSR.htm
Vergleiche insbesondere meinen Aufsatz Was bedeuten Wahrung und Förderung der Sprache und der Sprachkultur? in der Netzseite
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/SOVsRSR/ArchivSO/MRiebe1.htm,
den Professor Christian Gizewski, Berlin, dort veröffentlicht hat. Es handelt sich um einen aufschlußreichen Kommentar über das von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), Wiesbaden, und vom Institut für Deutsche Sprache (IDS), Mannheim, herausgegebene Handbuch: Förderung der Sprachkultur in Deutschland. Sprachvereine im deutschen Sprachraum (1999) und über den Aufsatz von Silke Wiechers: Wir sind das Sprachvolk aktuelle Bestrebungen von Sprachvereinen und -initiativen. In: Muttersprache, Vierteljahresschrift für deutsche Sprache, Hrsg.: Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), Wiesbaden, Jahrgang 111, Heft 2, Juni 2001, S. 147 162.
Es ist nie zu spät, Natur-, Kultur- und Sprachzerstörung, Entdemokratisierung, Korruption und Steuerverschwendung zu stoppen! (VRS)
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