Notice: Undefined variable: goto in /home/www/rechtschreibung.com/html/Forum/showthread.php on line 3 Notice: Undefined variable: goto in /home/www/rechtschreibung.com/html/Forum/showthread.php on line 3 Forum - Der Fetisch "Norm"
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Walter Lachenmann
11.01.2002 12.22
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Menschenbilder

Das Menschenbild, das hinter dem heutigen Bildungs- und Erziehungssystem und der sie gestaltenden Politik steht, sei geprägt durch die »Zopf-ab«-Haltung der 68er Generation, usw.

Da macht es sich einer wieder einmal sehr einfach: »die 68er« sind an dem Schlamassel schuld. Als ob »die 68er« die deutsche Politik der letzten dreißig Jahre definiert hätten! Ausgerechnet ein Politiker der 68er-feindlichen Partei, die praktisch seit Kriegsende in ihrem Land ohne nennenswerte Opposition regiert, kommt zu dieser scharfsinnigen Erkenntnis, mit der er natürlich wieder den Schwarzen Peter den verhaßten »Linken« zuschieben kann. Über das »Menschenbild«, das hinter einer solchen Diskussionsethik und einem solchen Demokratieverständnis steht, sollte man wirklich einmal allen Ernstes nachdenken. »Leistungsschwach und nicht mehr im Stande, komplexe Zusammenhänge zu begreifen« – das trifft auf einen, der so etwas von sich gibt, genau zu. Solange die politische Kultur sich auf diesem Niveau bewegt, das auf gesellschaftspolitischer Ebene absolut dem der PISA-Studie entspricht, wird sich nichts zum Guten verändern, dies ist gewiß, und genauso gewiß ist, daß sich das Niveau der Auseinandersetzung nicht heben wird.

Die »Zopf-ab«-Haltung ging in den 68er Jahren bekanntlich durch alle gesellschaftlichen Schichten, von den konservativen Parteien über die Kirchen bis hin ins linke Spektrum, wo es zu ganz besonders absurden Auswüchsen gekommen ist – es war eine Generationserscheinung. Wenn man sich an gewisse Verhältnisse der Zeit vor dieser »Kulturrevolution« erinnert, so war sie auch eine der segensreichsten Phänomene der Nachkriegszeit, und beschränkte sich bekanntlich nicht auf die Bundesrepublik. Da Aufklärung und Intelligenz nie eine Chance haben, sich in gesellschaftlichen Strukturen (Parteien, Ministerien, Regierungen, Gesetzgebungen, Behörden, Vereinen, Familien usw.) und unter uns Menschen überhaupt nachhaltig durchzusetzen, wurde aus »Zopf-ab« erwartungsgemäß »Kopf-ab«, mit anderen Worten: unter Verweis auf mehr oder weniger ideologisch gerechtfertigte Theorien, wurde die schon immer praktizierte Gedankenlosigkeit weiterbetrieben: Respekt vor der Würde des Kindes wurde praktiziert als weitgehender Verzicht auf erzieherische Einwirkung (eine Erziehungspraxis, die man auch bei durchaus konservativen jungen Eltern beobachten kann), die Forderung nach Recht auf Bildung für alle wurde so fehlinterpretiert, als ob alle Menschen in gleicher Weise zu jeglichem Bildungsgrad befähigt seien, aus der »sexuellen Befreiung«, die zu den wichtigsten Errungenschaften der 68er Jahre gehört, wurde die Sanktionierung jeglicher mit diesem Thema verbundenen Dummheit und Geschmacklosigkeit gemacht.

Ich bin aber überzeugt davon, daß diese Erscheinungen nichts mit dem eigentlichen Geist, der zu dem Phänomen der 68er geführt hat, zu tun haben, sondern mit dessen genauem Gegenteil, seiner Pervertierung.

Das »Menschenbild«: Auch hier müßte man unterscheiden zwischen präskriptivem und deskriptivem Ansatz. Einander um die Ohren zu schlagen, man habe ein verwerfliches »Menschenbild« ist ganz besonders blöde. Und fromme Verweise auf die Bergpredigt sind in aller Regel eine Geschmacklosigkeit, da wir alle sehr wohl wissen, daß kaum jemand von uns diesem präskriptiven »Menschenbild« auch nur annähernd bereit ist zu entsprechen.

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Walter Lachenmann

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Manfred Riebe
11.01.2002 12.12
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Kleingläubigkeit

Professor Ickler schrieb: „Es ist sonderbar, daß in Deutschland der Glaube verbreitet ist, ohne ein staatlich approbiertes Rechtschreibbuch würde alles drunter und drüber gehen. (...) Ohne das vertraute Gängelband glaubt man hilflos und verlassen zu sein. Kleingläubigkeit nenne ich das.
Natürlich bin ich realistisch genug, um die Kirche im Dorf zu lassen. Nicht jeder Lehrer kann den vollen Überblick haben, „wie man schreibt“. Dazu gibt es dann die deskriptiven Hilfsmittel zum Nachschlagen.“

Bis 1996 wußte ich als Deutschlehrer an einer Berufsschule, aber dennoch – wie fast alle Berufsschullehrer – als Nichtgermanist, nicht, daß es neben dem Duden auch noch andere konkurrierende Rechtschreibwörterbücher gab. In den Deutsch-Lehrplänen hieß es, daß man sich nach dem Duden zu richten habe. Ich gehe deshalb davon aus, daß nur sehr wenige Lehrer, auch Germanisten, alternative Wörterbücher kannten und für den Deutschunterricht benutzten. Nachdem die Kultusminister 1996 das Duden-Privileg aufhoben und die sogenannte Rechtschreibreform einführten, erschienen eine Reihe neuer Rechtschreibwörterbücher auf dem Markt. Im März 1997 verglich die FAZ neun neue Wörterbücher miteinander: Bertelsmann von Juli 1996, Bertelsmann vom November 1996, Wahrig, Duden, Duden: Universal-Wörterbuch, Bünting (Aldi), Bedürftig (bei Eduscho), Trautwein und Deutsches Wörterbuch (Uni Essen). Die FAZ stellte eine lexikalische Konfusion fest. Erst dadurch wurde ich allmählich darauf aufmerksam, daß es auch schon vor 1996 Wörterbücher gab, die trotz des Duden-Privilegs mit dem Duden konkurrierten. Ich nenne eine Auswahl:

- Hermann, Ursula / Leisering, Horst / Hellerer, Heinz: Knaurs Großes Wörterbuch der deutschen Sprache. Der große Störig. München, 1985
- Kempcke, Günter et al. (eds.): Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (HDG). In zwei Bänden. Berlin (1984)
- Klappenbach, Ruth / Steinitz, Wolfgang (eds.): Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (WDG). Berlin. (1961 – 1977)
- Knaurs Rechtschreibung, München/Zürich 1973
- Kraemer, Rolf (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, Mit Silbentrennung und Phonetik. Unter Mitarbeit von Helga Hahn, Jürgen R. Brandt und J. Reichberg, Wiesbaden: R. Löwit GmbH, 1980
- Küpper, Heinz: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Stuttgart 1997 (= Nachdruck der Auflage von 1987)
- Lexikon der deutschen Sprache, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1969
- Mackensen, Lutz: Deutsches Wörterbuch, 12. Auflage, Bindlach: Gondrom-Verlag, 1991
- Paul, Hermann: Deutsches Wörterbuch. 9., vollständig neu bearbeitete Auflage von Helmut Henne und Georg Objartel unter Mitarbeit von Heidrun Kämper-Jensen. Tübingen, Niemeyer-Verlag, 1992
- Pekrun, Richard: Das deutsche Wort, bearbeitet von Franz Planatscher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden, 12. Auflage, Bayreuth: Gondrom Verlag, (1985)
- Störig, Hans Joachim: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 1990
- Ullstein Lexikon der deutschen Sprache. Wörterbuch für Rechtschreibung, Silbentrennung, Aussprache, Bedeutungen, Synonyme, Phraseologie, Etymologie, (1969)
- Wahrig, Gerhard: Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1971

Der „Glaube“ bzw. der Kleinglaube oder die angebliche „Kleingläubigkeit“ beruhte bei näherer Betrachtung früher folglich oft auf Unwissenheit, und das „Gängelband“ war die Folge staatlicher Reglementierung durch die Kultusminister, d.h. des bisherigen Duden-Privilegs.

Im Gegensatz zu damals wären aber heute alle Schreiber, Lehrer und Germanistikprofessoren, die sich – trotz eines infolge der Aufklärung über die sogenannte Rechtschreibreform viel besseren Wissensstandes – an das mangelhafte „Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung“ der Kultusminister halten, viel eher als gegängelte „Kleingläubige“ zu bezeichnen, sofern sie sich kritik- und widerstandslos dieser politisch korrekten, aber als äußerst mangelhaft erkannten „Reform“ bedingungslos unterwerfen.

Aber wie wäre es wohl gewesen, wenn vor 1996 wenigstens den Deutschlehrern die oben genannten „deskriptiven Hilfsmittel zum Nachschlagen“ alle bekannt gewesen wären? Hätten sie zur Korrektur von Deutschaufsätzen mehrere Wörterbücher herangezogen oder hätten sie sich auf ein einziges Wörterbuch verlassen? Auf welches Wörterbuch hätten sie sich stützen sollen? Die Entscheidung der Kultusminister, den Lehrern den Duden als maßgebende Rechtschreibinstanz vorzuschreiben, wurde sicherlich aus der Unterrichts-, Korrektur- und Prüfungspraxis heraus geboren, um eine gewisse Einheitlichkeit herbeizuführen und Korrekturen möglichst verwaltungsgerichtsfest zu machen. Damit ist es aber nun vorbei; denn das seit 1996 geltende „Regelwerk zur deutschen Rechtschreibung“ der Kultusminister ist eine staatliche Reglementierung anderer Art. Es hat infolge seiner mangelnden Logik, Widersprüchlichkeit und Praxisferne zu einer Beliebigkeitsschreibung geführt, die wohl fast alle Schreiber, insbesondere die Lehrer, ablehnen.
_________________________________________

Manfred Riebe, OStR, Dipl.-Kfm.
Beisitzer des VRS – Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V.
- Initiative gegen die Rechtschreibreform -
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg
Netzbrief: Manfred.Riebe@raytec.de
Netzseiten: http://www.vrs-ev.de
http://www.deutsche-sprachwelt.de
http://Gutes-Deutsch.de/
http://www.rechtschreibreform.com
http://www.raytec.de/rechtschreibreform/
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/VsRSR.htm

Vergleiche insbesondere meinen Aufsatz „Was bedeuten „Wahrung“ und „Förderung“ der Sprache und der Sprachkultur?“ in der Netzseite
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/SOVsRSR/ArchivSO/MRiebe1.htm,
den Professor Christian Gizewski, Berlin, dort veröffentlicht hat. Es handelt sich um einen aufschlußreichen Kommentar über das von der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS), Wiesbaden, und vom „Institut für Deutsche Sprache“ (IDS), Mannheim, herausgegebene Handbuch: „Förderung der Sprachkultur in Deutschland. Sprachvereine im deutschen Sprachraum“ (1999) und über den Aufsatz von Silke Wiechers: „Wir sind das Sprachvolk“ – aktuelle Bestrebungen von Sprachvereinen und -initiativen. In: Muttersprache, Vierteljahresschrift für deutsche Sprache, Hrsg.: Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), Wiesbaden, Jahrgang 111, Heft 2, Juni 2001, S. 147 – 162.

„Es ist nie zu spät, Natur-, Kultur- und Sprachzerstörung, Entdemokratisierung, Korruption und Steuerverschwendung zu stoppen!“ (VRS)


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Theodor Ickler
11.01.2002 05.01
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Viel einfacher

Was Herr Schäbler sagt, ist mir zu hoch. Herr Riebe hat meine Bemerkungen besser verstanden. Ich hatte doch – nicht zum erstenmal – etwas ziemlich Einfaches gesagt. Es ist sonderbar, daß in Deutschland der Glaube verbreitet ist, ohne ein staatlich approbiertes Rechtschreibbuch würde alles drunter und drüber gehen. Auch schon vor dem Einheitsduden konvergierten, wie K. Duden 1876 feststellte, die Schreibweisen zu einer sehr einheitlichen Norm (im Sinne inhärenter Norm, also des Gebrauchs). Die Einheitsorthographie war nur der Schlußstein auf dieser Entwicklung, die genauso ablief wie in anderen Ländern. Leider ist dann der Staat zum Verwalter der Norm geworden. Anderswo geht es aber ohne Staat, und das ist in vieler Hinsicht besser.
Ferner hatte ich angedeutet, daß die anderen Ebenen der Sprache seit je ohne staatlich autorisierte Norm beurteilt und gepflegt werden. Allerdings hat der Dudenverlag einen Teil jener ihm zugeschobenen oder von ihm erschlichenen Autorität auf die anderen Werke seines Hauses abzuleiten verstanden, so daß zum Beispiel die Dudengrammatik und Band 9 ein Ansehen genießen, das ihnen in keiner Hinsicht zusteht.
Das sind deutsche Fehlentwicklungen. Sie sind so fest etabliert, daß manchem (auch und gerade manchem Lehrer) die Phantasie fehlt, sich andere, liberalere Lösungen vorzustellen. Ohne das vertraute Gängelband glaubt man hilflos und verlassen zu sein. Kleingläubigkeit nenne ich das.
Natürlich bin ich realistisch genug, um die Kirche im Dorf zu lassen. Nicht jeder Lehrer kann den vollen Überblick haben, „wie man schreibt“. Dazu gibt es dann die deskriptiven Hilfsmittel zum Nachschlagen. Die besseren kann man als Unterrichtsmittel zulassen, wie andere Schulbücher auch. Mehr sollte der Staat sich aber nicht zutrauen.
Ich weiß wirklich nicht, warum das in Deutschland nicht funktionieren sollte.
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Th. Ickler

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Norbert Schäbler
10.01.2002 23.46
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I gitt

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Gerade hatte ich mein o mit Glück um sein ursprüngliches h gebracht – da kommt der Schulmeister und belehrt mich, daß es besser doch mit h geschrieben würde. Mitnichten! Ich habe nämlich nicht die Interjektion oh gemeint, von der die Dudenliteratur mit Recht sagt, sie werde überwiegend so geschrieben, wenn sie allein steht, sondern die Vokativpartikel o, die zusammen mit anderen Wörtern steht und daher auch mit den bekannten biblischen Kleingläubigen, auf die ich mir anzuspielen erlaubte in diesem frommen Kreis.

Eigentlich habe ich ja gar nicht belehren wollen – das kam vielleicht so an – weil so viele Zuschauer außen rum waren, aber jetzt wird Belehrung nötig, denn was ich unter keinen Umständen ausstehen kann, ist, daß ich jemandem einen sanften Rat gebe, von dem ich dann in den Hintern getreten bekomme. Dann dringt bei mir die „Paukersau“ durch, und auch die ist verteidigungswürdig!

Sehr geehrter Herr Professor Ickler!

Wenn wir uns über Liberalität unterhalten, dann meinen wir doch wohl die größtmögliche Freiheit für alle Beteiligten. Dann werden doch insbesondere diejenigen, die den Intellekt gepachtet zu haben scheinen oder ihn besitzen, von ihrem Intellekt insofern Gebrauch machen, daß sie denjenigen, die sie als intellektlos einschätzen, zumindest Gnade gewähren, indem sie sanfte Aufklärung betreiben statt schulmeisterlichen Rapport abzuhalten. Ihre Worte empfinde ich wie ein Geschütz!

Jene Zeiten der Liberalität, von denen Sie schwärmen, können nur dann Realität werden, wenn wir aufhören damit, Werte zu vermitteln und stattdessen den einzelnen Menschen Wert verleihen. Dann wäre der paradiesische Zustand erreicht, daß jedes Individuum Autorität wäre.
In einer Gesellschaft, in der sich jeder über den anderen erhebt, in der Imponiergehabe und Neid an der Tagesordnung sind, geht das nicht!




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nos

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Manfred Riebe
10.01.2002 21.18
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"Zopf-ab"-Haltung der 68er Generation

Norbert Schäbler schreibt an Herrn Professor Ickler: „Würden Sie meine Lehren annehmen – sie unterscheiden sich von früheren Belehrungen erheblich – oder würden Sie, so wie es 90 Prozent unserer Hauptschüler tun, selbst den wohlgemeinten Vorschlag ignorieren? (Das nämlich ist die Kehrseite der Medaille: Wir Hauptschullehrer schreiben uns oft die Finger wund ohne jegliche Reaktion.)" Warum reagieren Schüler nicht? Es ist klar, daß begründete „Lehren“ eher akzeptiert werden als ein „wohlgemeinter Vorschlag“ oder gar unbegründete „Belehrungen“. Lehrer Schäbler macht den Fehler, sich nicht in seinen „Schüler“, Professor Ickler, hineinzuversetzen.

Jan-Martin Wagner verwendete in seinem Beitrag „Nicht amtlich, dennoch einheitlich“ vom 10.01.2002 den Begriff der „Kleingläubigen“. Diesen Begriff griff Professor Ickler auf, indem er aus der Bergpredigt, in der auch das „Vaterunser“ enthalten ist, zitiert: „O ihr Kleingläubigen!“ (Matth. 6, 30). Man könnte daher als Pädagoge auf die lehrreiche Bergpredigt und das hinter ihm stehende Menschenbild zurückgreifen. Es ist bekannt, daß sich das Volk über die Lehre Jesu entsetzte.

Meint Professor Ickler mit dem Ausruf: „O ihr Kleingläubigen!“, daß bei künftigen Deutschlehrern bzw. Germanisten nach fünf Jahren sprachwissenschaftlicher Bildung an einer Universität eigentlich genügend Grammatikkenntnisse vorhanden sein sollten? Bemerkenswert ist, daß er eine solche Behauptung nicht aufstellt, sondern anschließend nur vier Fragen stellt, z.B. „Wozu in aller Welt bilden wir den Deutschlehrer fünf Jahre lang sprachwissenschaftlich aus?“ Ickler hat nicht behauptet, „daß die Universität in der Lage sei, ein Richtmaß zu schaffen“. Ganz offensichtlich bezweifelt er, daß alle Deutschlehrer an der Universität die nötige Sprachkompetenz erwerben. Es kommt entscheidend darauf an, ob die Studenten studierfähig sind oder nicht. Allerdings schwingt in dem Ausruf „O ihr Kleingläubigen!“ mit, daß Studenten mit entsprechender Qualifikation durchaus in der Lage sein sollten, sich die nötigen Grammatikkenntnisse zu erwerben. Dabei sind Studentinnen, die „während der Vorlesung stricken“ (Schäbler), noch wesentlich höher einzuschätzen als Studenten, die entweder die falschen Vorlesungen besuchen oder die Liberalität ausnützen und die Vorlesungen schwänzen.

Die Pisa-Studie scheint darauf hinzudeuten, daß es tatsächlich eine gewisse Orientierungslosigkeit und Verwahrlosungstendenzen gibt. Dazu schreibt die Nürnberger Zeitung:
„Was Glück (Alois Glück, M.R.) nicht sagt, aber zwischen den Zeilen zum Ausdruck bringt, ist die dringende Notwendigkeit, über das Menschenbild nachzudenken, das hinter dem heutigen Bildungs- und Erziehungssystem und der sie gestaltenden Politik steht. Geprägt ist es durch die „Zopf-ab“-Haltung der 68er Generation. Alles ist erlaubt; Selbstverwirklichung sei das Wichtigste im Leben; Kindern deutliche Grenzen setzen – igitt, welch verwerflicher, Menschenrechte verletzender Gedanke! Auf Gleichmacherei hatten damals viele derer gesetzt, die sich jetzt so bitter darüber beklagen, dass die heutige Jugend leistungsschwach und nicht mehr im Stande sei, komplexe Zusammenhänge zu begreifen.“
(Philipp Roser: Diskussion über die Schulstudie „Pisa“ greift noch zu kurz – Frage des Menschenbilds. In: NÜRNBERGER ZEITUNG Nr. 6 vom 08.01.2001, S. 2)

Norbert Schäblers Bemerkung, daß „die Funktion des Lehrers seit Beginn der Kulturrevolution bis zum heutigen Tage zunehmend ausgehöhlt wurde“, deute ich so, daß es auch in der Lehrerausbildung eine gewisse Orientierungslosigkeit gibt und daß die Lehrerausbildung immer noch unzureichend ist. Wie sonst ist die Forderung des Bundespräsidenten Johannes Rau vor dem „Forum Bildung“ zu verstehen: „Bildung müsse auch Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen vermitteln.“ Ich bezweifle, daß die Ausbildung der Volks- und Berufsschullehrer im Fach Deutsch ausreichend ist. Wie wurden und werden z.B. Volks- und Berufsschullehrer im Fach Deutsch ausgebildet? Wenn ich aber sehe, daß die Arbeitnehmer im „Forum Bildung“ durch den DGB und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vertreten sind, befürchte ich, daß sich auch in Zukunft auf Grund ideologischer Blindheit nicht sehr viel ändern wird, vor der Johannes Rau warnt („weniger Ideologie und weniger falsche Idylle“).

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Theodor Ickler
10.01.2002 19.58
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Deskription

Herr Melsa hat ein ernstes Problem erkannt. Ich werde natürlich bei der weiteren Arbeit am Wörterbuch grundsätzlich nur vorreformatorische Texte heranziehen. Allerdings kommen seither neue Wörter auf, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen.
In der Praxis ist das nicht so problematisch. Grammatischer Unsinn scheidet natürlich aus. In anderen Fällen ist reformgemäße Schreibung nur Zufall und kann hingenommen werden. Ich habe ja auch bisher keine Schreibweise nur deshalb ausgeschlossen, weil sie auch der Reform entspricht (nochmal usw.).
sogenannt zum Beispiel kommt getrennt geschrieben nicht in Frage, auch wenn es alle Welt so schreiben sollte (aber es geht schon wieder zurück).
__________________
Th. Ickler

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Theodor Ickler
10.01.2002 19.50
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Oh!

Gerade hatte ich mein o mit Glück um sein ursprüngliches h gebracht – da kommt der Schulmeister und belehrt mich, daß es besser doch mit h geschrieben würde. Mitnichten! Ich habe nämlich nicht die Interjektion oh gemeint, von der die Dudenliteratur mit Recht sagt, sie werde überwiegend so geschrieben, wenn sie allein steht, sondern die Vokativpartikel o, die zusammen mit anderen Wörtern steht und daher auch mit den bekannten biblischen Kleingläubigen, auf die ich mir anzuspielen erlaubte in diesem frommen Kreis.
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Th. Ickler

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Norbert Schäbler
10.01.2002 16.30
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Re: O ihr Kleingläubigen!

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Wonach richtet sich der Lehrer, wenn er Grammatik unterrichtet? Was sagt er zur Hauptsatzstellung nach weil, zur Nebensatzstellung nach trotzdem? Aufgrund welcher Autorität bemängelt er Wiederholungsfehler und andere stilistische Schwächen – mit Folgen für die Notengebung?

Wozu in aller Welt bilden wir den Deutschlehrer fünf Jahre lang sprachwissenschaftlich aus?


Lieber Herr Professor!

Stellen Sie sich vor, ich sei so ein Schriftsprachenästhetikfreak – das gibt es ja im breiten Spektrum der Liberalität – und Sie hätten mich als Lehrer ...
Dann würde ich Ihnen als überzeugter Friedrich-Roemheld-Anhänger Ihre Überschrift rot einfärben und folgendes hinein- und darunterschreiben.

O (A: besser „oh“) ihr Kleingläubigen (A: wirkt leicht überheblich).

Zu „oh“: Einbuchstabige Wörter sind nicht sehr geschmackvoll. Sie werden leicht überlesen, haben andererseits aber auch eine gewisse Auffälligkeit, weil sie sich von der Norm abheben. Überdenke die Funktion der wortgewichtenden Buchstaben! (Möglichkeiten: „oh“, „oo“)

Zu „Kleingläubigen“: Die Ausführungen passen nicht ganz zum Rahmenthema, denn das letzte Maß und die Konsequenz der totalen Liberalität ist noch nicht erkannt und wird nicht explizit erörtert.

Zurück zum Gedankenspiel: Meine Einmischung in Ihren persönlichen Schreibstil sollte Ihnen nicht wehtun, zumal sie im Regelfalle verdeckt gehalten sind und einzig Ihnen als Adressat zukommen.
Doch die Frage sei mir erlaubt:
Wie würden Sie (als Schüler) reagieren – und dies insbesondere im gegenwärtigen gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Funktion des Lehrers seit Beginn der Kulturrevolution bis zum heutigen Tage zunehmend ausgehöhlt wurde.
Würden Sie meine Lehren annehmen – sie unterscheiden sich von früheren Belehrungen erheblich – oder würden Sie, so wie es 90 Prozent unserer Hauptschüler tun, selbst den wohlgemeinten Vorschlag ignorieren? (Das nämlich ist die Kehrseite der Medaille: Wir Hauptschullehrer schreiben uns oft die Finger wund ohne jegliche Reaktion.)

Ich kann aufgrund meiner beruflichen Erfahrungen die Liberalität nicht glorifizieren. Ich sehe ebenfalls Verwahrlosungstendenzen, Orientierungslosigkeit und Autoritätsverluste.
Und daß die Universität in der Lage sei, ein Richtmaß zu schaffen, streite ich völlig ab.
Ich habe zu viele StudentInnen in dünn besetzten Hörsälen während der Vorlesung stricken gesehen.


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nos

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Christian Melsa
10.01.2002 11.53
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Neue Perspektiven gesucht

Die Zweifel von denjenigen als Kleingläubigkeit zu sehen, die doch lieber ein überall zugrundegelegtes Referenzwerk als Maßstab hätten, wäre vor 1996 noch völlig richtig gewesen. Unter heutigen Umständen ist das aber anders zu bewerten. Bis dahin gab es eine gesunde Orthographie, bei der sich seit beinahe hundert Jahren die Wogen gelegt hatten und die nur aus sich heraus dort, wo es wirklich allgemein ganz selbstverständlich als nötig und nützlich empfunden wird, weiterentwickelte. Es war nicht weiter schwierig, sich ein Bild von den üblichen Schreibweisen zu machen, denn der Gebrauch war überall so gut wie einheitlich.

Das sieht jetzt leider ganz anders aus. Selbst die, die vorgeben, in den sauren Apfel gebissen zu haben, um die ach so wichtige Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung weiterhin zu gewährleisten, indem sie dieselbe verwenden, die ja nun mal auch an den Schulen unterrichtet würde – na ja, jedenfalls so eine ähnliche, jedenfalls eine neue, Hauptsache neu, schließlich ist jetzt auch ein neues Jahrtausend angebrochen und so – selbst die wissen ja gar nicht so recht, was denn nun neuerdings tatsächlich falsch und was richtig sein soll. Ist die Neuregelung ohnehin schon in ihrer Urform schwer zu durchschauen, was ist dann mit den Revisionen, die in den jüngeren Wörterbuchauflagen zu beobachten und mit den ursprünglichen neuen Regeln nicht in Einklang zu bringen sind? Welche amtlich gesegneten neuen neuen Regeln soll man dahinter vermuten? Und wenn man lieber die Urform der Reform anwenden möchte, welches Wörterbuch ist dann das „richtige“? Da sind ja diverse Unterschiede vorhanden? Und die „Hausorthographien“, nun ja. Die von der dpa wirkt schon wie abends in der Kneipe bei einem Bier zusammengekritzelt (Achtung, Holzhammerpolemik!), aber das macht nichts, besonders strikt halten sich die dpa-Meldungen ja sowieso nicht an sie, das heißt, man schreibt einfach viel ss und getrennt und selbstständig, Potenzial, Delfin, Tipp, Gräuel. Am saubersten scheint sich noch die ZEIT ans eigene Reformderivat zu halten, über das sie sich mit elitärem Stolz vom Rest abhebt, glücklich darüber, einen Dieter E. Zimmer für vorsichtige Reparaturen zu haben (eigentlich doch merkwürdig, daß im Gegensatz zum Kursumschwung der FAZ sich darüber keine GEW und KuMis aufgeregt haben, so würde die Verwirrung noch vergrößert).

In dieser Lage darauf zu vertrauen, daß sich auch ohne ein neues Referenzwerk die frühere Einheitlichkeit bald wieder einpendeln dürfte, scheint mir doch etwas unrealistisch eingeschätzt. Im Prinzip ist der Duden doch auch immer noch der Leithammel. Einige haben sich zwar entgeistert ob der unfaßbaren Entgleisungen, die das Mitmachen bei so einer Pseudoreform mit sich brachte, von ihm abgewandt, aber dennoch oder gerade wegen der neuen Verwirrung – den Duden gibt es ja immer noch, also schaut man eben dort hinein. Daß es auch noch eine Rolle spielen könnte, in welchen Duden – Rechtschreibduden, großes Wörterbuch, Praxiswörterbuch –, das ist ja schon Insiderwissen. Die Geborgenheitsformel „Im Zweifelsfall siehe Duden“ ist inoffiziell immer noch gemeinhin gültig. Ein Anzeichen dafür ist die Tatsache, daß ein Rechtschreibkorrektor für den Computer in der Presse als Ereignis gemeldet wird, nur weil er vom Dudenverlag kommt. Wäre das Programm, mit völlig identischen Leistungsmerkmalen, z.B. von Data Becker, würde keine Zeitung die geringste Notiz davon nehmen. Was Microsoft für die Computerwelt, ist Duden für die deutsche Sprache. Von Microsofts fragwürdigen Geschäftspraktiken hat auch jeder schon mal gehört, aber sogar in Behörden wird dessen Betriebsystem eingesetzt, und alle EDV-Schulungen beziehen sich auf die Office-Programme von Microsoft. An irgendwas muß man sich ja orientieren, und dann orientiert man sich eben an dem, woran sich auch die anderen orientieren, und die machen dasselbe.

Hätte der Duden einfach die Reform sozusagen links liegen lassen, ich wette, es hätte so gut wie keine Zeitung etwas an ihrer Rechtschreibung geändert, und wäre in den Schulen noch so sehr etwas anderes unterrichtet worden.

Es stellt sich heute auch die Frage, ob die Methode der Erstellung des Ickler-Wörterbuchs überhaupt weiterhin betrieben werden kann, solange es eine grundsätzliche Alternative zur Wörterbuch-Hauptströmung (seit wann ist „Mainstream“ nicht übersetzbar?) darstellt. Wenn die Auswahl des Pressekorpus so bleiben würde, würde man ja in Schwierigkeiten geraten, denn die Süddeutsche Zeitung kann als Richtschnur für akzeptable allgemeine Schreibweisen wohl kaum noch in Frage kommen. Der offene, deskriptive Ansatz würde sich auf die Dauer zwangsläufig doch wieder zu einem präskriptiven wandeln, denn man müßte, wenn man überhaupt künftig auch Texte neueren Datums in den Korpus einfließen läßt, sich auf eine Art FAZ-und-seriöse-Literatur-Orthographie beschränken. Neue Begriffe tauchen jedoch zuerst in der Presse auf, die dummerweise aber nicht mehr als Vorbild taugt. Die Präskription bestünde in der Maßgabe, Einflüsse, die von der Reform herrühren, einfach nicht zuzulassen. Man dürfte also stattdessen nur schreiben, weil das schon vor der Reform häufig so geschrieben wurde, obwohl damals schon eigentlich normwidrig. Wie soll man in Zukunft die von der abgelehnten Reform ausgelösten Normwidrigkeiten (bzw. neuen Entwicklungen) von denen unterscheiden, die man ruhig hin- und in ein deskriptives Wörterbuch aufnehmen kann?

Wenn man das Markengewicht des Dudens bedenkt, wäre ein Kompromißkurs dort schon sehr wünschenswert, in dem der Duden die Reformschreibweisen nach wie vor rot druckt und als „Amtsdeutsch“ kennzeichnet, die wirklich üblichen und bewährten dagegen aber nicht wahrheitswidrig als "überholt“ bzw. „veraltet“. Die eigenen, begleitenden Texte müßten auch wieder in normaler Rechtschreibung erscheinen. So könnte man den Duden weiterhin als absolutes Referenzwerk akzeptieren (wenn außerdem auch noch mehr Nähe zum echten Gebrauch vorhanden wäre, wie es das Ickler-Wörterbuch vormacht). Das wäre sowieso von vornherein die einzig korrekte Darstellung gewesen. Wären die neuen Schreibweisen von sich aus überzeugend genug, daß sie auf diese Weise als Vorbild wirken könnten, hätte die Veränderung auch so stattfinden können – dann aber mit Einwilligung der und durch die Sprachgemeinschaft. Die derzeitige Dudenpraxis jedoch, dieser völlig unseriöse Fälschungsversuch, der Sprachgemeinschaft von oben herab neue Sprachkonventionen unterjubeln zu wollen – und das im Namen eines „demokratischen“ Staates! – macht ja das ganze Schauspiel so ekelhaft.

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Manfred Riebe
09.01.2002 19.37
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Beliebigkeitsschreibung "nicht so wild"?

Einheitsorthographie Konrad Dudens contra neue Beliebigkeitsschreibung

Natürlich fehlt den Schreibern, insbesondere den Lehrern und Schülern, soweit sie glauben, sich an den Neuschrieb halten zu müssen, ein zuverlässiger Unterrichts- und Rechtschreibmaßstab. Heute ist es so ähnlich wie zur Zeit Konrad Dudens in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als die Rechtschreibung in den einzelnen deutschen Ländern durch Uneinheitlichkeit, Willkür und Verwirrung gekennzeichnet war. Damals schrieb jeder Lehrer seine eigene Rechtschreibung.

Auch heute ist die Wirrnis infolge der willkürlichen Schriftänderung so groß, daß niemand genau sagen kann, wieviel verschiedene Rechtschreibungen des Deutschen gegenwärtig existieren. Mit Sicherheit sind es mehr als zwanzig. Heute sind sich (wie damals) oft zwei Lehrer derselben Schule und zwei Journalisten der gleichen Zeitung nicht mehr in allen Stücken über die Rechtschreibung einig, selbst Konvertierungsprogramme können uns nicht helfen. Kein Schulleiter und Kultusminister kann uns Lehrern heute ein fehlerfreies Rechtschreibwörterbuch in Neuschrieb als Unterrichts- und Korrekturmaßstab nennen.

Es gibt keine Autorität mehr, die man anrufen könnte, denn alle mehr als 20 Wörterbücher weichen in ihren Schreibweisen voneinander ab. Dieser Zustand ist ein schwerwiegendes Problem für die Schulen, sowohl im Unterricht als auch bei der Rechtschreibkorrektur. Obendrein hat dies auch negative Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. (Vgl. Wurzel, Wolfgang Ullrich: Konrad Duden, 2. Auflage, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1985, S. 51). Doch außerhalb der Schulen hält man sich weitaus überwiegend an die herkömmliche Rechtschreibung des Duden bis zu seiner 20. Auflage 1991. Dazu rät auch der Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. (VRS) in seiner Satzung, denn das angebliche „amtliche“ Regelwerk gilt ja ohnehin nur für die Schulen, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 14. Juli 1998 festgestellt hat.

Außerdem hat der Duden die neue Beliebigkeitschreibung rot gekennzeichnet, so daß der kluge Schreiber sie vermeiden kann. Dazu schreibt einer der Reformer, Professor Horst Haider Munske, Erlangen, der im September 1997 unter Protest aus der Reformkommission ausschied: „Immerhin kann man ihn (den neuen Duden, M.R.) jetzt, dank der Wiederaufnahme der bisherigen Schreibung, auch gegen den Strich benutzen. Nach dem Motto: alles Rotgedruckte ist falsch! Man vermeide die roten Giftpilze im Duden! – Wer einen Schritt weitergehen will, kann sich von Anfang an oder zusätzlich an Icklers Rechtschreibwörterbuch orientieren. Denn die Einheit der deutschen Orthographie ist nur im Rückgriff auf die Schrifttradition wiederherzustellen. Das hatte schon Konrad Duden erkannt, als er von eigenen Reformentwürfen Abstand nahm und zu der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert allgemein üblichen Rechtschreibung zurückkehrte. Dies ist auch heute kein Konservatismus, sondern eine Entscheidung, die den Bedingungen schriftlicher Kommunikation entspricht. Denn diese ist auf Kontinuität der Schriftnormen angewiesen. Selbst geringen Änderungen, die man als Kleinigkeiten bewerten muß, erhebt sich vielstimmiger Widerspruch. Das haben auch die Planer einer sehr vorsichtigen Rechtschreibreform in Frankreich erleben müssen.“ (Horst Haider Munske: „Meidet die roten Giftpilze im Duden!“ In: Schule in Frankfurt, Nr. 44, Juni 2001. „Schule in Frankfurt“ ist eine Lehrerzeitschrift!)

Nach Munske schied im Februar 1998 ein weiterer Rechtschreibreformer, Professor Peter Eisenberg, Potsdam, ebenfalls unter Protest aus der Rechtschreibkommission aus. Er arbeitet im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, im Widerspruch zur sogenannten Rechtschreibreform an einer Wörterliste.

Ist in der Praxis „alles nicht so wild“? Dabei kommt es auf den Standpunkt an. Ein guter Pädagoge legt Wert auf eindeutige, grammatisch und semantisch korrekte Schreibweisen. Doch antiautoritär geschulte Alt-68er setzen beim Schreiben mehr auf eine Laisser-faire-Beliebigkeit. Und weil die meisten Lehrer den Neuschrieb ohnehin selber nicht beherrschen, weil er nicht beherrschbar ist, praktizieren sie ihn nicht, abgesehen ansatzweise von der ss-Schreibung. Aus diesen Gründen sehen sie „großzügig“ über die neue Beliebigkeitsschreibung hinweg, sofern sie keine Deutschlehrer sind.

Übrigens kann man den herkömmlichen Duden in der 20. Auflage von 1991 für 5,- DM bzw. etwa 2,50 Euro günstig antiquarisch erwerben. Aber es gibt auch andere Wörterbücher, die auf Grund der erkannten Mängel des Neuschriebs weiterhin in der traditionellen bzw. richtigen Rechtschreibung erscheinen:

Theodor Ickler: Das Rechtschreibwörterbuch. Die bewährte deutsche Rechtschreibung in neuer Darstellung. Sinnvoll schreiben, trennen, Zeichen setzen. St. Goar: Leibniz Verlag 2000, ISBN 3-931155-14-5, DM 29,80

Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch. 10. Auflage, Tübingen, Niemeyer-Verlag, 2002,

Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 5. Taschenbuchauflage, dtv, Juli 2000.

Der VRS hat außerdem bisher über 250 reformfreie Medien zusammengestellt, die nicht auf den Neuschrieb umgestellt haben oder wie die FAZ zur traditionellen Rechtschreibung zurückgekehrt sind (vgl. die Liste der reformfreien Zeitungen und Zeitschriften http://gutes.deutsch.de), darunter auch über 40 juristische Zeitschriften.
_______________________________________________________

Manfred Riebe, OStR, Dipl.-Kfm.
Beisitzer des VRS – Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V.
- Initiative gegen die Rechtschreibreform -
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg
Netzbrief: Manfred.Riebe@raytec.de
Netzseiten: http://www.vrs-ev.de
http://www.deutsche-sprachwelt.de
http://Gutes-Deutsch.de/
http://www.rechtschreibreform.com
http://www.raytec.de/rechtschreibreform/
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/VsRSR.htm

„Es ist nie zu spät, Natur-, Kultur- und Sprachzerstörung, Entdemokratisierung, Korruption und Steuerverschwendung zu stoppen!“ (VRS)








– geändert durch Manfred Riebe am 11.01.2002, 10.06 –

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Theodor Ickler
09.01.2002 19.29
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O ihr Kleingläubigen!

Wonach richtet sich der Lehrer, wenn er Grammatik unterrichtet? Was sagt er zur Hauptsatzstellung nach weil, zur Nebensatzstellung nach trotzdem? Aufgrund welcher Autorität bemängelt er Wiederholungsfehler und andere stilistische Schwächen – mit Folgen für die Notengebung?

Wozu in aller Welt bilden wir den Deutschlehrer fünf Jahre lang sprachwissenschaftlich aus?
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Th. Ickler

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J.-M. Wagner
09.01.2002 14.29
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Re: Nicht amtlich, dennoch einheitlich

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Die Schüler lernen auf jeden Fall eine einigermaßen einheitliche Rechtschreibung, ob mit oder ohne staatliche Privilegierung eines bestimmten Unternehmens. In anderen Ländern hat es solche Privilegierung ja auch nie gegeben: England, Frankreich zum Beispiel – Länder mit sehr intensiver Orthographiepflege.
»Ja, aber« regt sich da bei mir der noch verbliebene Zweifel – und der Kleinglaube: Wie soll das dann in der Praxis aussehen, wenn es keine Norm mehr gibt, welche »die a priori richtige Schreibung« festlegt? Wenn es mehrere »Standardwerke« für die Rechtschreibung gibt, auf welcher Grundlage lehrt ein Lehrer dann, und vor allem, wonach bewertet er dann Fehler, und dies auf eine für die Schüler nachvollziehbare Weise (Stichwort: Gerechtigkeit)? Wie funktioniert das in anderen Ländern? Gibt es da Diskussionen mit den Schülern über die Schreibvarianten, die sie in anderen Nachschlagewerken finden (oder bei Schülern der Nachbarklasse, die von einem anderen Lehrer unterrichtet werden) und als richtig anerkannt bekommen wollen? Gibt es irgend welche Anzeichen dafür, daß den Schülern dabei etwas fehlt, woran sie sich halten können (im Sinne der »Geborgenheit schaffenden Norm«)?
Ich vermute, daß das in der Praxis alles nicht so wild ist. Nichtsdestotrotz könnte es aber bei den Zweiflern (und den Kleingläubigen) die größten Bedenken hervorrufen.
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Jan-Martin Wagner

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Norbert Schäbler
09.01.2002 01.33
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Genormte Demokratie

Ich erinnere einen Satz, den mein Schulrat sprach, als ich – (Lehrer) – mich als Rechtschreibreformkritiker outete.
„Intelligenz kommt bei unterschiedlichen Sachverhalten zu unterschiedlichen Ergebnissen“, sagte er.
Und ich erinnere auch die Worte des Regierungsschulrates, der mich zu einem Führungsgespräch einlud, mir eine Vorlesung hielt und seine Rede wie folgt einkleidete: „Über die Sache selbst werden wir nicht reden, hier wissen Sie vermutlich besser Bescheid als ich. Ich werde Sie lediglich über Ihre Rechte und Pflichten als Beamter unterrichten.“
(Er unterrichtete mich ausschließlich über meine Pflichten.)
Für den Staat war schon damals die Rechtschreibreform in trockenen Tüchern.
Sachkundige Kritik wurde mit bürokratischen Mitteln ausgehebelt.

Während des Volksbegehrens in Schleswig-Holstein lernte ich die inzwischen ausgediente SLH-Kultusministerin, Gisela Böhrk, kennen. Sie richtete an meine Adresse den Ratschlag, ich solle mein Demokratieverständnis überprüfen. Meine Anschauung von einer „unmittelbaren“ Volksherrschaft sei veraltet. Der Staat hingegen könne nur handlungsfähig bleiben, wenn Beschlüsse der gewählten Politiker befolgt und eingehalten würden.
(Daher mußte dort auch das Volksbegehren revidiert werden, weil sonst das Demokratieverständnis à la Gisela Böhrk Schaden gelitten hätte.)

Und genau das hätte ich jetzt gerne einmal gewußt:
Wie ist es möglich, daß in einer Demokratie das Proporz- und Wirtschaftsdenken das Handeln regieren (siehe: Stoiber/Merkel, siehe Rechtschreibreform)?
Darf man sich denn diese Norm überstülpen lassen?




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nos

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Theodor Ickler
07.01.2002 04.15
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Kein Widerspruch

Wenn die Aufgabe lautet: Wer stellt die übliche Schreibweise am besten dar? – dann kann wirtschaftliches Denken (Konkurrenzdruck) der Sache nur dienlich sein. Zur Zeit geht es nur darum, die staatliche Vorgabe so wirksam wie möglich zu vermarkten. De facto und widerrechtlich werden Bertelsmann und Duden bevorzugt, denn die Kommission hat in eigener Machtvollkommenheit entschieden, exklusiv nur diese beiden (also die Geschäftspartner einiger Kommissionsmitglieder) zu den Beratungsgesprächen einzuladen. Gastgeber war das Haus Duden.
__________________
Th. Ickler

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Norbert Schäbler
06.01.2002 19.30
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Re: Nicht amtlich, dennoch einheitlich

Zitat:
Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Ich glaube sogar, daß die Aufhebung der Amtlichkeit die Rechtschreibung noch einheitlicher machen könnte. Nämlich deshalb, weil in einer Kommunikationsgemeinschaft von dieser Dichte das natürliche Konvergieren auf die Einheitsschreibung hin nicht durch künstlich retardierende Normwerke gehemmt würde ...
Steckt aber nicht gerade hinter den gegenwärtigen Zuständen der Versuch, die Schriftsprache zu einer Ware zu machen? Bertelsmann und der Dudenverlag profitieren doch von der engen Zusammenarbeit mit dem IDS Mannheim, während andere Wörterbuchverlage nur im zweiten Glied stehen, obwohl das Monopol angeblich beseitigt wurde.

Die Aussage von Herrn Professor Ickler möchte ich voll unterstreichen. Auch ich glaube an das natürliche Konvergieren und sehe ebenfalls Hemmnisse in künstlich retardierenden Normwerken.
Die Frage ist aber, ob Professor Ickler mit seiner Wörterbuchkonzeption dieses „Warendenken“ erschüttern kann, denn es handelt sich ja nicht einfach nur um ein x-beliebiges Macht- sondern um ein Meinungsmonopol eines Medienriesen.
__________________
nos

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