Lehrer und »Norm«
Norbert Schäbler ist mit den Antworten, die er hier bekommt, nicht zufrieden. Einerseits stellt er inhaltliche Übereinstimmung mit Herrn Icklers Ideen fest, empfindet aber dennoch, seine Probleme würden nicht erkannt und gewürdigt. Woran liegt dies? Ich will versuchen, es herauszufinden, vielleicht tue ich mich leichter, da ich weder Lehrer noch Sprachprofessor bin, zu beiden Berufsständen (und Individuen) ein gleichermaßen respektvolles Verhältnis habe.
Ich nehme an, daß die Positionen deshalb so ungleich zuungunsten Norbert Schäblers sind, weil Theodor Ickler über die Rechtschreibung so viel theoretisieren und lehren darf, wie er mag, er zumindest wesentlich günstigere Voraussetzungen hat, diese Liberalität in die Praxis umzusetzen, als dies bei Norbert Schäbler als Lehrer der Fall ist. Diese Situation des Lehrers hat er ja sehr drastisch beschrieben, mit teilweise deprimierenden Feststellungen. An ihr sind die Lehrer aber nun wirklich teilweise selbst schuld, und das leugnet er ja auch gar nicht.
Zum Beispiel: Lehrer sind keine autonomen Persönlichkeiten, obwohl man dies von einem Pädagogen erwarten sollte. Sehr wohl sollte man dies erwarten, und wenn es nicht so ist, dann liegt das nicht an irgendwelchen Behörden, sondern an den Lehrern selbst, die doch im Lauf ihrer beruflichen Entwicklung mehr als andere Berufsstände alle Möglichkeiten hatten, sich über die Geschichte der Ideale von Freiheit und Zivilcourage zu informieren und über deren Wichtigkeit für den Bestand unserer Kultur. Offensichtlich sind aber viele von ihnen zu bequem oder zu ängstlich, hiervon das Notwendige selbst in ihrem Leben umzusetzen.
Oder: Wie will denn ein Genormter ein Gestanzter etwas anderes weitergeben als gerade jene Norm, die er nie hinterfragt hat, aus welchen Gründen auch immer? Wer ist denn schuld daran, daß er sie nie hinterfragt hat? Hat man es ihm verboten? An anderer Stelle bekennt ein Kollege Schäblers, er habe bis 1996 als Deutschlehrer an einer Berufsschule überhaupt nicht gewußt, daß es neben dem Duden auch noch andere konkurrierende Rechtschreibwörterbücher gab. Das kann unmöglich daran gelegen haben, daß ihm irgendwelche finsteren Alt-68er bei Strafe des finalen Mobbings es verboten hätten, sich hierüber kundig zu machen, und wenn ein Lehrer von seinem Unterrichtsfach lediglich die amtlich vorgegebene Literatur zur Kenntnis nimmt, mag das auch mit persönlichem Desinteresse oder der von Norbert Schäbler beschriebenen Unwilligkeit, über die gestanzte Norm hinaus sich mit seinem ureigensten Wissensgebiet zu beschäftigen, zusammenhängen. Wenn dieses Nichtwissen vom Vorhandensein anderer Wörterbücher in der gebildeten Bevölkerung allgemein gewesen wäre, hätte niemals auch nur eines davon verkauft werden können, sie wurden aber durchaus recht gut verkauft, waren also bekannt und verbreitet, und keineswegs ausschließlich im Ramschmarkt zu finden.
Die Antwort an Norbert Schäbler könnte nach meiner Vorstellung in etwa so lauten, den Spagat zu wagen, den amtlichen Lehrplänen so weit zu folgen wie nötig und den eigenen Überzeugungen so weit wie möglich. Hierbei unterstelle ich den Idealfall des Lehrers und Pädagogen, der sich gleichermaßen für das Wissen, die humanen Ideale und für seine Aufgabe, diese seinen Schülern zu vermitteln, begeistern kann. Das heißt, die Lehrer werden die Stoffe der Lehrpläne so vermitteln müssen, wie sie vorgeschrieben sind. Dann liegt es am Lehrer, den Kindern wahrheitsgemäß zu sagen, daß es im Leben aber auch noch anders zugeht. Leicht ist das sicherlich nicht, aber das behauptet ja auch keiner.
Und außerhalb der Schule kann man, als Nicht-Lehrer, vielleicht nichts anderes tun, als versuchen, die generelle Verbreitung der sprachzerstörerischen neuen Regeln zu verhindern, indem man möglichst wirksam und wo auch immer dafür wirbt, diese nicht anzuwenden.
Und wo ist dann die Norm, der »Fetisch«? Das hat Herr Ickler eigentlich oft und allgemeinverständlich dargelegt: es ist die Praxis.
Fast hätte ich die wichtigste Frage für einen Lehrer in der Situation Norbert Schäblers vergessen: Wo finde ich für mich und meinen Unterricht eine Darstellung der Praxis? Normalerweise in einem Rechtschreibwörterbuch, und wenn wir ehrlich sind, gab es zwischen dem Duden, der schließlich als verbindlich galt, und den anderen Rechtschreibwörterbüchern keine so gravierenden Unterschiede, als daß darüber jemals eine große Staatskrise hätte ausbrechen können. Nun ist es eben leider so, daß keine Darstellung der Praxis verbindliche Referenz ist, sondern Vorschriften für die Praxis, die dort erst vorkommen, seit es eben Vorschriften sind. Damit ist die wissenschaftliche Grundlage der Rechtschreibung erst einmal zerstört, und der Lehrer muß sehen, wie er damit zurechtkommt. Vorläufig ist ihm wohl wirklich nicht zu helfen, es kommt auf seine Persönlichkeit und seine Phantasie an, wie er in dieser vertrackten Situation seiner Verantwortung, die ihm anvertrauten Kinder mit der Wirklichkeit vertraut zu machen, umgeht. Diese Antwort kann dem armen Schulmeisterlein niemand geben, außer er selber. Und wenn er schlau ist, hat er einen alten Duden im Regal stehen, damit er sich über die Bögchen nicht den Kopf zerbrechen muß.
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Walter Lachenmann
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