Zitat: Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Seit Beginn der Reformdiskussion vertrete ich die Maxime: Was die Grammatik erlaubt, kann die Orthographie nicht verbieten. (...)
Nun könnte man fragen, ob das Umgekehrte ebenfalls gilt: Was die Grammatik verbietet, kann die Orthographie nicht erlauben.
Finden Sie, daß Ihre Frage beantwortet wurde -- oder haben Sie den Eindruck, daß lediglich eine Antwort gegeben wurde (wie im Märchen vom klugen Hirtenknaben, welcher auf alle Fragen ein Antwort zu geben wußte)?
Falls letzteres der Fall sein sollte, versuche ich es noch einmal so:
Ich bevorzuge folgende Formulierung: »Was die Orthographie erlaubt, darf nicht zu grammatischen Inkonsistenzen führen.« (Was ich unter grammatischer Inkonsistenz verstehe, wird aus dem folgenden ersichtlich.)
Eigentlich kann ich Herrn Melsas Ausführungen zur Anwendung der Großschreibung nichts wirklich neues hinzufügen -- außer, daß man sich klarmachen sollte, welche Konsequenz die bisherige Regelung hat, unter welchen Umständen Großbuchstaben verwendet werden -- bzw. warum sie überhaupt benutzt werden: Was will man damit erreichen?
Zitat: Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Ich will ja gar nicht bestreiten, daß es im allgemeinen Schreibgebrauch einen klaren Zusammenhang zwischen der Verwendung der Großschreibung und bestimmten grammatischen Funktionen der groß geschriebenen Wörter gibt. Hierbei ist die Richtung von Ursache und Wirkung allerdings derart, daß eine gegebene grammatische Funktion über die Großschreibung entscheidet.
Die Großschreibung ist zwar (m. E.) ein rein orthographisches Phänomen und hat daher (an sich) nichts mit Grammatik zu tun, jedoch führte die bisherige Verwendung großer Buchstaben zu einer (partiellen) Umkehrbarkeit der von mir beschriebenen Ursache-Wirkungs-Kette: Aus einer gegebenen Großschreibung des Anfangsbuchstabens eines Wortes ließen sich präzise Schlußfolgerungen über die Wortart ziehen (wenn man von dem Fall absieht, daß das Wort am Satzanfang steht). Nur darin kann m. E. der Sinn der Großschreibung liegen, daß diese Rückschlüsse ermöglicht werden. Diese Aussage mag trivial erscheinen, ich habe sie jedoch in der bisherigen Diskussion vermißt (auch wenn sie mehr oder weniger implizit aus anderen Beiträgen hervorgeht).
Durch die Rechtschreibreform wird genau dieses Prinzip durchbrochen, und das bedeutet, daß ein der bisherigen Orthographie zugrundeliegender Konsens aufgegeben wird! (Auch diese Aussage mag trivial erscheinen, ich halte sie aber für den Kern der Sache.) Damit ist die falsche Großschreibung m. E. ein orthographisches Problem, und zwar ein massives! Es ist eine völlig unbrauchbare orthographische Regelung, weil sie den Leser auf eine falsche Fährte führt, und weil dadurch die Sinnhaftigkeit der Großschreibung insgesamt in Frage gestellt wird.
Reformschreibungen wie sehr *Besorgnis erregend sind m. E. außerdem als grammatisch falsch zu bezeichnen, weil (bzw. wenn) sie adjektivische Funktion haben -- als Adjektiv ist besorgniserregend ganz einfach ein einziges Wort. Handelte es sich wirklich um ein erweitertes Partizip, so wäre die Verwendung eines Synonyms ohne sprachliche Beeinträchtigung möglich: Besorgnis hervorrufend, Besorgnis erzeugend etc. sind aber m. E. nur in Konstruktionen sinnvoll, in denen es um eine bestimmte Besorgnis geht, die hervorgerufen oder erzeugt (oder eben erregt) wird, und nicht um die adjektivische Feststellung, daß etwas an sich besorgnisserregend ist; dies wurde ja bereits am Beispiel fleischfressend (generelle Eigenschaft) und Fleisch fressend (konkret in diesem Moment Fleisch verzehrend) hinreichend diskutiert. Im Fall eines erweitereten Partizips kann aber sehr nicht ohne weiteres hinzugefügt werden, sondern nur, wenn es ein weiteres Adjektiv verstärt, welches sich auf Besorgnis bezieht: sehr große Besorgnis erregend.
Letztlich ist dieses Problem also ein semantisches, welches auf der grammatischen Ebene durch den Unterschied zwischen Adjektiv und Partizip in Erscheinung tritt -- und seinen Niederschlag in der Orthographie durch die Zusammen- oder Getrenntschreibung (in Verbindung mit der Großschreibung) findet. Damit ist auch noch einmal die Hierarchie klargestellt, welche m. E. den Maßstab dafür angibt, welche Ebene die Vorgaben für andere Bereiche liefert: Semantik --> Grammatik --> Orthographie. Diese Vorgaben zielen dabei notwendigerweise auf die Umkehrbarkeit dieser Kette in dem Sinn, daß von einer vorgefundenen Schreibweise auf die Bedeutung geschlossen werden kann. Daß dies nicht 100%ig gelingt, ist klar; jedoch sollte ebenso klar sein, daß dies das eigentliche Ziel ist und daß durch eine Änderung der Orthographie keine Verschlechterung eintreten sollte. -- Was meinen Sie zu diesen Antworten?
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Jan-Martin Wagner
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