Tagesablauf eines schriftsprachensüchtigen Vorruheständlers
Früh am Morgen lese ich nachdem ich all meine wortlosen Geschäfte verrichtet und meiner Frau im Anschluß an ein herzliches „Moin, Moin“ einen Kuß auf die Backe gedrückt habe die Zeitung.
Nur manchmal zögere ich (oder meine Frau) das mit dem Zeitungslesen auch noch hinaus, und es entspinnt sich ein weiterer kurzer Dialog, getragen von Höflichkeit oder Vorwürfen…
Im Prinzip aber vergehen zwischen dem Zähneputzen und dem Griff nach dem „Newspaper“ nicht mehr als fünf Minuten. Das ist so eine Art Zeremonie eines gengeschädigten (nämlich männlichen) Sprachnutzers (darüber gibt es ja genügend Frauenwitze).
Meine Zeitung lese ich leise, versenke mich ganz in die gedruckten Informationen nehme, während meine Frau schweigt (ja selbst, wenn sie zu meckern anfinge), mehr geschriebene Einzelworte in mich auf, als ich den ganzen Tag unsinniger- oder sinnigerweise selbst rede oder zu hören bekomme und so habe ich bereits in den ersten fünfzehn Minuten meines geistigen Wachseins einen Tagesüberhang von geschriebener zu gesprochener Sprache erarbeitet, der bis zum Abend kaum noch abzutragen ist, selbst wenn mich einer beständig zulallte und ich zu einer wortreichen Verteidigung ausholen müßte.
Außerdem baut sich ja mein angehäuftes Schriftsprachenpotential im Tagesverlauf beständig aus, denn jetzt, nachdem ich keiner regelmäßigen Arbeit mehr nachgehe (aus gesundheitlichen Gründen mußte ich meine Tätigkeit als Lehrer beenden), nehme ich mir Zeit zur Bildung und zur Information.
Manchmal ist es am Kaffeetisch gesellig, ein andermal ist meine Informationssucht stärker als die Geselligkeit – jedenfalls bestimmt die Variable „Sucht“ den Zeitpunkt, der mich zum Computer treibt, um erneut Schriftsprache auf mich einwirken zu lassen.
Ich durchforste nun Mails, persönlicher oder informativer Natur, blättere auf Internetseiten, lese, freue oder ärgere mich lautlos, lasse auf mich einwirken, mache irgendwann den Computer aus und ziehe mich in die familiäre Gesprächsatmosphäre zurück, damit ich nicht zu schriftlastig werde.
Zu diesem Zeitpunkt aber weiß ich schon: Das gesprochene Wort hat auch heute wieder verloren. Sein Anteil wird sich irgendwo einpendeln zwischen fünf und zehn Prozent. Mehr geht nicht, denn die zehn Prozent sind nur dann erreichbar, wenn ich selbst in Fahrt komme – bin ich doch einer der größten Laller auf diesem Erdboden. Vielen meiner Bekannten habe ich sprichwörtlich schon ein „Ohr abgekaut“.
Meistens lalle ich schreibend. Das kommt von meiner Berufserfahrung als Lehrer und freier Mitarbeiter einer Tageszeitung. Ich habe nämlich festgestellt, daß viele Menschen nicht mehr richtig – entweder oberflächlich oder aus bewußter Ablehnung heraus – zuhören können, weshalb ich mir einen Leitsatz zu eigen machte: „Das, was die Menschen nicht hören wollen, schreibe ich ihnen.“ Früher habe ich alles fünf- bis zehnmal gesagt und kam mir schlußendlich vor wie ein Tonband oder ein Papagei.
Ich ziehe mich also wieder an den Computer zurück, nutze ihn als moderne Schreibmaschine
und antworte nun auf die Früh-Mails des Tages, dann auf die Äußerungen diverser Internetseiten, und häufig kommt es vor, daß ich weitere Mails erhalte, oder daß sich im Internet ein Dialog auftut.
Dann schreibe ich halt, tagesdurchschnittlich etwa zwölf Din-A-4-Seiten, und wenn es keine Herausforderungen, Erwartungen, Notwendigkeiten oder sonstwas gibt, dann lese ich was, oder gehe mit meiner Frau aus, oder erfülle eine gesellschaftliche Pflicht …
Dann lasse ich auch dem gesprochenen Wort seinen Anteil zukommen, wobei ich die wirklich wertvollen Worte – vermutlich wieder aus Gründen der Sucht – später wieder zu Papier bringe.
Rentnern, wie ich einer bin, lauert das geschriebene Wort tagtäglich an allen Ecken auf, und man hat unsägliche Probleme, nicht ständig in die Bildungsfallen hineinzutappen und statt dessen einmal die Fröhlichkeit des Daseins zu genießen.
Tatsache ist, daß Schriftsprache in meinem Tagesverlauf immer einen großen Raum einnahm, daß aber die Rechtschreibreform die ohnehin vorhandene Schriftlastigkeit verstärkt hat.
Die Parlamentarier aber wissen offensichtlich nicht, daß Sprache aus zwei Teilen besteht, und sie sind blind für das Argument: „Die Schrift ist nicht zum Schreiben da.“
Man mag sich hierbei über die Wortherkunft des „Parlamentariers“ Gedanken machen. Da scheint eine „Lastigkeit des gesprochenen Wortes“ vorprogrammiert.
Den Parlamentariern jedoch ins Stammbuch: Auch die Schriftsprache hat zwei Ebenen: die des Rezipierens (Lesen) und die des Konzipierens (Schreiben).
Daß die nicht unbedingt schreiben müssen, ist klar, daß die aber lesen müssen, gehört unwiderruflich zum Berufsbild. Andernfalls müßte man ja annehmen, daß das Volk nicht nur von „Babbelsäcken“ sondern zugleich von immenser selbstverschuldeter „Dummheit“ regiert würde.
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