Als sporadisch teilnehmender Diskutant auf diesen Seiten möchte ich an dieser Stelle meine Beurteilung zusammenfassen.
Die Sichtweise, es handele sich um eine Konvention, die insofern harmlos sei, als man sich ihr privat nicht beugen müsse, ist schon auffällig oberflächlich. Was haben die Millionen Beamten, in schreibenden Berufen Tätigen, Lehrer, Studenten, Schüler usw. davon, wenn sie beruflich bzw. in der Ausbildung neu lernen und schreiben müssen, aber privat alt schreiben dürfen? Allein hier zeigt sich doch die Verlogenheit der scheinbaren Liberalität.
Weiter wird dabei übersehen, daß die Konvention Rechtschreibung, das heißt der Konsens, die weitgehende Einigkeit einer Sprachgemeinschaft, wie man bestimmte Wörter und Satzstrukturen schreibt, ja nur in dem Maße funktioniert, wie tatsächlich Einigkeit herrscht. Es ist nun einmal schwieriger, als Schreibender und als Lesender mit verschiedenen Schreibsystemen leben zu müssen, als wenn man es mit einem weithin einheitlichen, anerkannten System zu tun hat. Wichtig ist dabei nicht nur, was irgendwo als Regel oder Wörterbucheintrag steht, sondern was davon in den Druckerzeugnissen tatsächlich umgesetzt wird und was in den Köpfen aller Schreibenden verankert ist. Wenn man all dies berücksichtigt, hat man keineswegs einfach eine neue Konvention, sondern auf Jahrzehnte einen Flickenteppich aus klassischen und verschiedensten neuen Schreibweisen, Regeln und Programmen: Das neue Regelwerk konkurriert nicht nur mit dem sogenannten alten, sondern wird seinerseits permanent verändert, was verschiedenste Interpretationen in den Wörterbüchern zur Folge hat, die Zeitungen handhaben es wieder anders keineswegs untereinander einheitlich , die Buchlandschaft ist geteilt in alt und neu, ebenso die eigentlich Betroffenen: die Millionen Schreibenden, die am längsten zur Umstellung brauchen und am wenigsten von den neuen Regeln verstehen. Also jahrzehntelang Kuddelmuddel: Das ist keine neue Konvention, sondern nur das Mogeletikett dafür, daß die bewährte Konvention (= Einheitlichkeit) im Umfang der Reform nicht erneuert, sondern sehr lange zerstört wird.
Um zu einer so oberflächlichen Einschätzung zu kommen Ist doch egal, wenn ein bißchen was sich ändert , muß man nach meinem Eindruck auf die unangemessene, leider verbreitete Perspektive hereingefallen sein, daß man ein einzelnes Wort als Beispiel betrachtet und von da aus auf die Qualiät des Ganzen schließt. Man prüft, ob es schlimm ist, Känguru statt Känguruh schreiben zu sollen, kommt zu dem Schluß, daß das nicht schlimm ist, und verallgemeinert flugs: Das ist doch alles höchst unerheblich. Dabei vergißt man, daß es sich nicht nur um einen einzelnen Schreibvorgang handelt, sondern daß allein schon das Känguru(h), obwohl kein Gegenstand des Alltags, in deutschen Landen millionenfach geschrieben und noch öfter gelesen wird. Es wurden aber noch tausend andere Begriffe geändert, die viel häufiger sind. Somit kommt man auf eine Relevanz von vielen Milliarden betroffenen Schreib- und Lesevorgängen pro Jahr. Bei jedem dieser Schreibvorgänge soll sich nun ein Mitglied der Sprachgemeinschaft den Kopf zerbrechen, wie jeweils geschrieben wird! Da kommt also ein geradezu gigantischer geistiger Aufwand zusammen. In Wirklichkeit kommt es aber noch besser, denn man ahnt als Normalbürger ja gar nicht, was sich alles geändert hat, so daß nicht nur die vielen tatsächlichen Änderungen Gegenstand des Kopfzerbrechens bzw. des Zweifels werden, sondern ein Großteil aller Schreibarbeit ist betroffen: Solange man das Neue noch nicht gelernt hat also sehr, sehr lange; in vielerlei Hinsicht auf Dauer , resultieren zum Beispiel entsprechend mehr Fehler, also das genaue Gegenteil des ursprünglichen Zwecks.
Dabei wäre dieser Aufwand nur zu rechtfertigen, wenn er von den Betroffenen selber gewollt wäre und wenn er der Gemeinschaft einen deutlichen Vorteil verschafft. Beides ist nicht der Fall. Alle Umfragen haben jahrelang eine Ablehnung von durchschnittlich 80 Prozent ergeben, bis heute gibt es keine Umfrage, die eine mehrheitliche Zustimmung zur Rechtschreibreform erbracht hätte. (Und die rund 20 Prozent Befürworter gingen ja irrtümlich davon aus, daß die Reform Vorteile bringe oder gar nötig sei, so daß der Grad der Ablehnung bei einer ordentlichen Aufklärung über das Thema noch viel größer wäre oder gewesen wäre.)
Daß die Rechtschreibreform dennoch durchgesetzt wurde, ist also das Gegenteil von Demokratie, und das ist nun einmal Diktatur, wenn auch das Wort meist im Zusammenhang mit einer militärischen Komponente verwendet wird, also vielleicht nicht optimal geeignet, wenngleich zutreffend ist. Jedenfalls handelt es sich um einen Skandal, tun doch sonst alle Parteien beständig so, als sei für sie der Wille der Bürger der oberste Maßstab ihres Tuns. Die Rechtschreibreform beweist, daß das eine Lüge ist, und zwar bei allen Parteien.
Was die Vorteile betrifft: Es mag minimale Vorteile in winzigen Ausschnitten geben, ich schätze sie auf ein Prozent gegenüber 99 Prozent Nachteilen. Ein Beispiel ist stattdessen als neue Norm. Aber selbst dies und das ist typisch für diese Vorteile hätte besser geregelt werden können: durch einen sanften Übergang, indem stattdessen zunächst zugelassen wird und erst dann als Norm festgelegt wird, wenn die Zusammenschreibung sich überwältigend durchgesetzt hat, so daß man die neue Norm mit Berechtigung hätte feststellen können. Ein solcher Vorgang wäre einfach und beschreibend gewesen und hätte keiner weiteren Rechtfertigung bedurft ganz anders als zum Beispiel das Känguru, geschweige denn die große Masse der Änderungen, von denen sich nachweisen läßt, daß sie willkürlich, nachteilig, unlogisch sind und/oder bei denen absehbar ist, daß sie auf Dauer nicht überleben können, weil sie auf beständige Ablehnung stoßen und/oder weil sie gegen elementare Grundsätze verstoßen (wie Leid tun mit grammatisch falscher substantivischer Auffassung).
Beim Känguru(h) als Beispiel hätte man fragen können und müssen: Wollt ihr diese Änderung? Man hätte die Argumente austauschen können und müssen eine breite gesellschaftliche Diskussion. Die Befürworter hätten gesagt: Känguruh ist unlogisch oder jedenfalls unsystematisch, weil andere Tiernamen auf -u kein -h haben: Marabu, Gnu, Kakadu und einige andere. Die Gegner hätten gesagt: Känguruh ist keine Schwierigkeit. Das Englische hat tausendmal mehr solche Probleme, und alle Welt lernt Englisch. Außerdem ist es nicht einzusehen, daß ausgerechnet Känguruh geändert werden soll, aber vieles andere von dieser Qualität genau bleiben soll wie bisher die Willkür dieser einzelnen Änderung ist viel unlogischer als die winzige Ausnahme -h. Jede Änderung bedeutet Aufwand denken wir hier an die Tafeln im Zoo und eine sehr lange Uneinheitlichkeit bis zur Umstellung der ganzen Sprachgemeinschaft. Dazu ist der Vorteil in diesem Fall viel zu gering. Laßt uns jedenfalls alle abstimmen! Die Änderung ist nur sinnvoll, wenn eine (deutliche) Mehrheit sie will, sonst bekommen wir nur Streit und Differenzen. Dann hätte die Allgemeinheit abgestimmt zum Beispiel durch repräsentative Umfragen , und die überwältigende Mehrheit hätte natürlich bestimmt, daß man die Änderung nicht will. So einfach hätte es sein können, und das wäre Demokratie gewesen, gemäß der Selbstverständlichkeit Die Sprache gehört dem Volk. Wir hätten uns den ganzen Ärger erspart, die Fehlerquote bei Känguruh wäre so minimal geblieben wie eh und je (während wir jetzt jede Menge Fehler bekommen), die Wörterbücher hätten nicht geändert werden müssen, Milliardenkosten hätten gespart werden können usw.
Es gibt nachweislich unter dem Strich keine Vorteile der Reform, sondern der ganze Aufwand ist, vorsichtig gesagt, umsonst und realistisch gesagt: Wir bekommen für den ganzen Aufwand verschiedene große Nachteile. Die Aushebelung der Demokratie besonders kraß in Schleswig-Holstein , die Mißachtung der Betroffenen, die großen finanziellen Aufwendungen, die Preisgabe der Einheitlichkeit, die Zunahme der Fehlerzahlen, die Verkomplizierung der Regeln wer all dies ignoriert und sagt: Ist doch so was von harmlos, ob ein paar Wörter jetzt anders geschrieben werden sollen, zumal privat niemand zu etwas gezwungen wird, muß schon Scheuklappen tragen oder eben eine sehr oberflächliche, unangemessene Betrachtung zugrunde legen. Selbst wenn einem persönlich die Rechtschreibreform egal ist oder man sich als Befürworter versteht, müßte man als Demokrat die Mehrheit für wichtiger halten als die persönliche Vorliebe. Wer es unternimmt, für die Reform einzutreten, obwohl er weiß, daß die Mehrheit sie nicht will, ist in dieser Hinsicht ganz einfach kein Demokrat; davon abgesehen, daß es ihm an Verständnis dafür mangelt, daß auch ihm selbst seine Rechtschreibung erst dann wirklich Vorteile bringen kann, wenn eben auch die anderen sie gut finden und anwenden, die breite Mehrheit.
Ich wähle folgenden Vergleich: Wir haben hierzulande die Konvention weithin durchgesetzt und anerkannt , daß der Verbraucherstrom die Spannung 220 Volt hat. Nun kommen ein paar Reformer und denken sich, die ideale Spannung des Verbraucherstroms betrage 150 Volt. Es gelingt ihnen, die entsprechende Umstellung durchzusetzen, obwohl 80 Prozent der Bevölkerung dagegen sind (und die anderen 20 Prozent auf falsche Versprechen hereingefallen sind). Dabei machen aber nicht alle mit, sondern jahrzehntelang haben die einen 150 Volt, die anderen 220 Volt, wobei es noch viele gibt, die einen Kompromiß am besten finden und Bereiche mit 180 oder 200 Volt durchsetzen. Also werden alle möglichen Adapter für diese verschiedenen Spannungen gekauft, viele Millionen an der Zahl, auch werden die neu produzierten Haushaltsgeräte und die Glühbirnen in verschiedenen Versionen je nach gewünschter Spannung ausgelegt, und der Käufer muß aufpassen, daß er das richtige Gerät anschafft. Bei einem Umzug hat er vielleicht Pech gehabt, und ein erhöhter Aufwand ist nötig, wenn man ein Gerät von zu Hause mal in der Firma oder in einem anderen Haushalt anschließen will.
Ist es nun klug, wenn einige Kommentatoren sagen: Jeder hat doch in seinen vier Wänden mit Hilfe der Adapter die Möglichkeit, jene Geräte zu verwenden, deren Spannung er am besten findet, ist doch alles kein Problem? Oder wenn jemand sagt: Ist doch mir schnuppe, ob eine Glühbirne mit 150 Volt oder mit 220 Volt funktionieren soll Hauptsache, sie brennt! dann hat er wohl kaum verstanden, was da vor sich geht. Genauso ist es mit der Rechtschreibreform.
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Wolfgang Wrase
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