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... mit dem gleichzeitig angekündigten Schbeschl kann ich jedoch leider nicht dienen. Ich war so frei, beim Lesen einige Stellen zu röten.
Quelle: Handelsblatt-Archiv, Genios
HB NR. 146 VOM 02.08.99 Seite 43
Themen und Trends / Handelsblatt Special
Ab heute gelten in den deutschen Zeitungen die neuen Regeln der Rechtschreibung / Die Reform bleibt reformbedürftig
/ Von ULRICH SELICH
Die neue Orthografie dürfte bald in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eine Selbstverständlichkeit sein. Das Handelsblatt setzt mit dieser Ausgabe zeitgleich mit sämtlichen deutschsprachigen Nachrichtenagenturen die Rechtschreibreform um.
HANDELSBLATT, Sa./So., 31.7./1.8.99
Ein wichtiges Ziel der Neuerungen ist, zu Gunsten der Eindeutigkeit auf alternative Schreibweisen zu verzichten. Nicht nur erleichtert das den Textverarbeitern die Recherche in den elektronischen Systemen, sondern es bewahrt auch den Leser vor einem unzumutbaren Hin und Her zwischen Schreibvarianten, wie sie in den vom Internationalen Arbeitskreis für Orthographie erarbeiteten Schreibregeln ausdrücklich gestattet sind.
Selbstverständlich sind die ab heute auch in dieser Zeitung geltenden Schreibweisen nicht der Weisheit letzter Schluss. Die Reform selbst befindet sich ja bis zum Jahr 2005 in einer Art Testphase, an deren Ende wohl die ein oder andere Korrektur vorgenommen werden muss. Ohne Frage wird das Kriterium der Eindeutigkeit bis dahin zu einer notwendigen Leitlinie geworden sein. Solange gilt im Handelsblatt, dass es von jedem Wort nur eine Fassung gibt und dass Abweichungen von den neuen Regeln nur dann zu finden sind, wenn es die Logik oder eine starke Konvention (Großschreibung etwa in Schwarzes Brett) erfordert. Sonst soll so wenig wie möglich von der reformierten Schreibung abgewichen werden.
Im Jahr 1987 schon erteilten die Kultusministerkonferenz und das Bundesinnenministerium dem Mannheimer Institut für deutsche Sprache den Auftrag, zusammen mit der Gesellschaft für deutsche Sprache ein neues Regelwerk für die deutsche Rechtschreibung zu entwerfen. Tatsächlich bestand ja auch Handlungsbedarf. Wem leuchtete schon ein, dass man Auto fahren, aber radfahren schreiben musste; im großen und ganzen, aber das Ganze; Stoffflicken, aber Stoffetzen, der in der Worttrennung sein drittes f zurückerhielt? Die Liste der Schreibweisen, die nur gegen den gesunden Menschenverstand zu begründen waren, war lang. Und wer immer hier reinen Tisch machen wollte, durfte sich der Zustimmung der Menschen sicher sein.
An der Überarbeitung der Orthografie beteiligten sich Germanisten aus der Bundesrepublik, der DDR, der Schweiz und Österreich. Sie machten sich Gedanken über sinnvolle Korrekturen an der Schriftsprache, die vereinfacht werden sollte, ohne dabei das Schriftbild allzu sehr zu verfremden. Es ging nicht um grundlegende Veränderungen, wie sie zum Beispiel eine generelle Eliminierung der Großschreibung bedeutet hätte, sondern um einige wenige längst überfällige und nachvollziehbare Korrekturen.
Im Juni 1995 wurde, nachdem auf Grund der Korrekturvorschläge von Verbänden und Institutionen das ursprüngliche Regelwerk überarbeitet worden war, die "Vorlage für die amtliche Regelung veröffentlicht. 1996 besiegelten Deutschland, Österreich, die Schweiz, Belgien, Italien, Liechtenstein, Ungarn und Rumänien die neue Rechtschreibung. Seit 1. August 1998 gilt sie bereits an den Schulen und in den meisten Landesbehörden. Auch eine Welle von Prozessen konnte die Reform nicht aufhalten. Nach einer Vielzahl konträrer Urteile von Verwaltungsgerichten sorgte das Bundesverfassungsgericht für Rechtssicherheit und gab grünes Licht.
Als Fehler hat sich erwiesen, dass die breite Öffentlichkeit nicht in die Diskussion über die Schreibreform mit einbezogen wurde. Daher formierte sich der Widerstand gegen die verordnete Orthografie, die sich in der Praxis denn auch als nicht ganz ausgereifte Sache entpuppte. Umfragen zufolge lehnten zwischen 70 und 80 % der betroffenen Menschen die Reform ab. Schriftsteller liefen Sturm gegen das Regelwerk, dem eine große Zahl von Germanistik-Professoren der Sprach- und Literaturwissenschaften im In- und Ausland keine guten Noten gaben. Die von manchen gar auf 50 Mrd. DM geschätzten Kosten trugen auch nicht zur Akzeptanz bei.
Zu denken gibt besonders, daß Lehrerinitiativen von einem Anschwellen des Fehlerstroms um bis zu 40 % berichten, und das, obwohl von offizieller Seite damit geworben wird, die Grundschulkinder lernten mit der neuen Rechtschreibung schneller und korrekter schreiben. Ein großes Problem stellt dabei zweifellos das Nebeneinander von alter und neuer Schreibweise dar. Hinzu kommen viele Ungereimtheiten: Warum schreibt man nun kostendeckend, aber Kosten sparend; heilbringend, aber Unheil bringend; heißlaufen, aber warm laufen?
In die Kritik geraten sind besonders die neuen Regeln der Groß- und Kleinschreibung sowie der Getrennt- und Zusammenschreibung, die die bisherigen, am Sprachgebrauch abgelesenen Regeln ersetzen. Das Sprachgefühl werde damit erheblich gestört, so die Gegner. Und in der Tat ist gerade hier die Reform reformbedürftig. Eine stärkere Beachtung unabhängig von der Orthografie-Regelung von 1901 entstandener Schreibweisen, in denen Wortbedeutungen zum Ausdruck kommen, wäre sehr sinnvoll.
Die Nachrichtenagenturen - und mit ihnen das Handelsblatt - gehen schon ein Stück dieses Weges, indem sie etwa die weitgehend aufgehobene Großschreibung feststehender Begriffe (Schwarzer Peter, Erste Hilfe) beibehalten. Fremdwörter aus lebenden Sprachen werden sinnvollerweise nicht eingedeutscht; das Portemonnaie bleibt also erhalten, ebnso die Facette und der Friseur. Weiterhin wird es auch das Ohmsche Gesetz geben, das eben im Gegensatz zur heineschen Ironie tatsächlich von Ohm formuliert wurde, während letztere lediglich eine Ironie nach der Art von Heine ist.
Die Reform glänzt als Ganzes sicherlich nicht; dennoch ist vieles an ihr begrüßenswert. Eine ganze Reihe der neuen Regeln vereinfacht tatsächlich den Umgang mit der Schriftsprache Deutsch. Wir müssen nun nicht mehr zwischen radfahren und Auto fahren unterscheiden; wir können uns an klaren Regeln orientieren, wann wir ss und ß schreiben, und brauchen uns nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, warum wir bislang Platz, aber plazieren schreiben mußten - oder beisammen sein, aber dabeisein. All diese Stolpersteine sind aus dem Weg geräumt.
Dieses zweiseitige Special gibt einen Überblick über die ab heute auch in dieser Zeitung verwendete Orthografie. Ergänzt wird die Darstellung durch eine repräsentative Liste von Wörtern in der neuen Schreibweise sowie eine Liste der am häufigsten verwendeten Begriffe aus den Kernbereichen der Berichterstattung.
Dass trotz des Bemühens, der Eindeutigkeit zu einer großen Geltung zu verhelfen, Ungereimtheiten bleiben, liegt in der Natur der nicht ganz geglückten Sache Rechtschreibreform. Es bleibt zu hoffen, dass die Verantwortlichen die Zeit bis 2005 nutzen, um die neuen Unstimmigkeiten zu korrigieren. Sie sollten dabei dem Sprachgefühl einen größeren Tribut zollen und auch den tagtäglich mit Sprache umgehenden Menschen in den Printmedien, den Lehrenden und Schriftstellern, den Praktikern also, Gehör schenken.
Der Autor ist Mitarbeiter des Korrektorats des Handelsblatts.
Autor: Selich, Ulrich
Serie/Beilage:
Die neue Rechtschreibung (Handelsblatt-Beilage)
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Meine Anmerkung dazu:
Schriebe ein Lufthansa-Pilot in einen Bericht solch wirres, in sich widersprüchliches Zeug, so stufte man ihn wohl recht rasch als Sicherheitsrisiko ein.
Wenn es sich nicht um ein paar Flugzeuge, sondern um unsere Kinder und um unser Arbeitswerkzeug Nummer eins, nämlich unsere Sprache handelt, dann sind die Verantwortlichen von unverantwortbarer Großzügigkeit.
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Detlef Lindenthal
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