Ein wenig Aufklärung für Herrn Schubert
Ursprünglich eingetragen von Herrn S. aus der V. in B.:
Für eine Antwort auf Herrn Melsas Frage muss ich etwas ausholen und ins Detail gehen. Wenn eine Sprache wie das Englische nie eine Schreibreform erlebt hat, droht das, was Frau Philburn so treffend als Verlotterung bezeichnet hat. Die jetzige Reform bringt deshalb in Einzelfällen eine Anpassung der Schriftgestalt an die Aussprache (Delfin, Katarr, platzieren, nummerieren).
Weil es Einzelfälle sind, muß man sie auch einzeln kennen. Die puren Reformregeln der Laut-Buchstaben-Zuordnung würden auch die bisherigen Schreibweisen zulassen, und die könnte man dann genausogut einzeln kennen. Einige spezielle Schreibweisen wurden aber dennoch geändert, die Auswahl ist allerdings ziemlich willkürlich. Das wäre ja noch hinnehmbar, wenn in allen Fällen die bisherigen Formen als Varianten gültig blieben, aber selbst bei der Variantenführung ist kein roter Faden zu erkennen. Betrachten wir einmal anhand einiger Beispiele die Kategorie von Wörtern, die Sie anführen, also eingedeutschte Fremdwörter (HV=Hauptvariante, NV=Nebenvariante).
Hauptform neu:
HV Sketsch, NV Sketch
HV Ketschup, NV Ketchup
HV Potenzial, NV Potential
Nebenform neu:
HV Delphin, NV Delfin
HV Panther, NV Panter
HV Kattarh, NV Katarr
HV Trekking, NV Trecking
Keine Variantenpräferenz:
Shrimp, Schrimp
Keine Varianten:
Stuckateur (Stukkateur gestrichen)
Känguru (Känguruh gestrichen)
Karamell (Karamel gestrichen)
Tipp (Tip gestrichen)
Shop (wieso nicht auch *Schopp?)
Metapher (wieso nicht auch *Metafer?)
Wo soll da das System sein? Die Regeln geben keine Hilfe, einen Einzelfall zu entscheiden, man muß im Wörterbuch nachschlagen. Von dort dann die bisherige Schreibweise zu übernehmen ist auch nicht schwieriger, als das mit der neuen zu tun. Vor der Reform konnte man wenigstens sicher sein, daß man nichts falsch macht, wenn man solche Wörter so schreibt, wie man sie aus Büchern kennt (sofern sie nicht älter als 100 Jahre, also jedenfalls zu eigenen Lebzeiten erschienen sind). Doch wer weiß schon genau, welche neuen Schreibweisen die Reform in diesem Bereich variantenlos eingeführt hat, welche man also nur in neuer Form schreiben dürfen soll?
Die obigen Beispiele sind alles Substantive. Integrierte Fremdwörter unter den Verben sind nur in vier Fällen geändert worden (jedenfalls stehen nur diese vier im Wörterverzeichnis der amtlichen Neuregelung):
Hauptform neu:
HV puschen, NV pushen
Keine Varianten:
frittieren
nummerieren
platzieren
Wieso hat ausgerechnet puschen eine Variante spendiert bekommen, die anderen Verben hingegen nicht? Ob es eine geheime Sonderbehandlung für englischstämmige Wörter gibt? Aber warum dann nur Tipp oder, bei den Adjektiven, nur kross ohne Variante cross? Wobei es witzigerweise Motocross heißen soll, aber man darf auch wie bisher Moto-Cross schreiben, im Gegensatz zu beispielsweise Peepshow, da ist *Peep-Show nicht erlaubt, genau wie bei Personalityshow oder Quickstepp, was wiederum anders gehandhabt wird bei Publicrelations, das alternativ nicht *Public-Relations geschrieben werden darf, sondern nur Public Relations ...
Von dieser ganzen Problematik abgesehen hat es im Deutschen auch keine lautliche Entwicklung weg von der Schriftform gegeben, wie das beim Englischen der Fall ist. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß der Klang gesprochenenen Deutschs sich seit 1901 irgendwie verändert hätte, in dieser Hinsicht besteht also überhaupt kein Aktualisierungsbedarf für die Schreibung. Und durch den Gebrauch von Tonaufzeichnung, wie er mittlerweile in Massen üblich ist, wird die Aussprache künftig wohl eher konserviert werden als daß sie sich wandelt. Zu erwarten ist höchstens wegen der modernen Kommunikationsmittel eine stärkere Wechselwirkung von Dialekten aufeinander, aber bei der Rechtschreibung geht man ja ohnehin von einer Standardsprache aus.
Wenn man sich entschlossen hat, bei der Großschreibung der Substantive zu bleiben, war es logisch und für Lernende nützlich, konsequenter als bisher Substantive großzuschreiben (Rad fahren, Auto fahren). Zugegebenermaßen ist die Reform dabei in wenigen Einzelfällen zu weit gegangen (Leid tun, zu Stande bringen); das wird sich korrigieren lassen. Bei zu Stande lässt der aktuelle Duden auch beide Schreibweisen zu.
Wieder das gleiche Problem: Wenn man Rad fahren schreiben soll und radfahren nicht mal als Variante mehr erlaubt ist, wieso dann nicht auch *Berg steigen? Genau wie bei bergsteigen der erste Bestandteil für eine Wortgruppe steht (auf den Berg steigen), kann man auch radfahren so betrachten (mit dem Rad fahren). Bisher war es so, daß solche Zusammensetzungen sich einfach aus dem Sprachgebrauch heraus gebildet haben, während andere, die theoretisch genauso konstruiert werden könnten, einfach weniger üblich waren. Die Reform hat nichts daran geändert, daß man die Einzelfälle irgendwie kennen muß, weil die nackten Regeln ohne Beispiele keine eindeutigen Schlüsse zulassen.
Das gilt auch für andere Bereiche der Groß-/Kleinschreibung:
Unter anderem geht es um Folgendes.
Das ist beileibe nicht das Einzige, das eine oder andere ist im Einzelnen noch verwirrender als Letzteres.
Des Näheren möchte ich mich nicht äußern und das bleibt auch bis auf weiteres dabei.
Im Wesentlichen ist das auf das schärfste zu kritisieren.
Auf dem schwarzen Brett wurde der Besuch des Ersten Bürgermeisters angekündigt.
Wird man von einer Schwarzen Witwe gebissen, ist schleunigst erste Hilfe erforderlich.
Sofern man die Regeln und vor allem die Fülle dazugehöriger Beispiele nicht sehr genau kennt, wird man wohl kaum wissen können, wo die Großschreibung nun erlaubt sein soll und wo nicht. Nun, der Abschnitt zur Groß-/Kleinschreibung erstreckt sich in der Neuregelung über 14 Paragraphen, im alten Duden sind es 24 bei Ickler andererseits nur 3! Der Duden hat die Kennziffern also sehr eng gesetzt. Aussagekräftiger für den zu bewältigenden Lernumfang ist die Länge der Abschnitte in den verschiedenen Regelwerken: bei den Reformregeln rund 5400 Wörter, beim alten Duden rund 2300 und bei Ickler rund 1600.
Gut finde ich auch, dass die Reform die Tendenz des Deutschen zum Zusammenschreiben gebremst hat (Eis laufen statt eislaufen). Die Zusammenschreibe-Tendenz führt zu unübersichtlichen und schwer erlernbaren Wörtern.
Wenn die Zusammenschreibungstendenz so problematisch sein soll, wie erklären Sie sich dann die Motivation, die zu dieser Tendenz überhaupt erst führte? Der Grund, Wörter zusammenzuschreiben ist doch die semantische Markierung. Die Wörter, die die Zusammensetzung ausmachen, haben in dieser Form eine besondere Bedeutung, die eine andere wäre, wenn die Wörter voneinander getrennt stehen würden. Sprache ist dafür gedacht, Inhalte zu vermitteln. Die Reformänderungen in dem Bereich Getrennt-/Zusammenschreibung ergeben in dieser Hinsicht überhaupt keinen Sinn.
Zum Beispiel: Ich ging in den Zoo um mir Fleisch fressende Tiere anzusehen.
Sollen da Tiere dabei beobachtet werden, Fleisch zu fressen, oder sollen nur Karnivoren beschaut werden, egal bei welcher Tätigkeit? Natürlich kann man solche Sätze auch anders formulieren, um der reformverschuldeten Unschärfe aus dem Weg zu gehen, doch bei nachträglich umgestellter Literatur ist das nicht so einfach. Außerdem führen die Reformveränderungen der orthographischen Mechanismen an dieser Stelle ja eindeutig zu weniger Präzision. Die dafür verantwortliche Regel §36 (1.2) orientiert sich an sinnlosen, rein formalen Kriterien. Den Leser interessiert es nicht, ob es im Infinitiv Fleisch fressen oder fleischfressen heißt, im Partizip fungiert das Verb als Adjektiv. Oder was soll es, daß man zwar per Zusammenschreibung zwischen zusammenziehen und zusammen ziehen differenzieren darf, weil zusammen- in der Partikelliste aus §34(1) steht, aber nicht zwischen auseinanderbringen und auseinander bringen, weil auseinander- aus unerfindlichen Gründen auf dieser Liste fehlt? Derlei Merkwürdigkeiten sind gerade in diesem Teil der Neuregelung nicht wenige. Die Regelneuerungen entbehren aber nicht nur jedes sprachlichen Sinnes, sondern sind auch noch ungemein kompliziert. Dazu auch hier ein Umfangvergleich: Während die entsprechenden Teilbereiche der Regelwerke im alten Duden und von Ickler mit rund 1100 und 1200 Wörtern ungefähr gleichgroß sind, umfaßt derselbe Bereich in der Neuregelung fast 2900 Wörter.
Dass, wenn bei Zusammensetzungen drei Konsonanten aufeinandertreffen, alle drei geschrieben werden, hinde ich einfach logisch. Zwei plus eins ist nunmal drei. Warum soll bei Eisschnelllauf oder Geschirrrückgabe eigentlich ein Konsonant ausfallen? Wenn drei gleiche Vokale zusammentreffen, sollte man immer einen Bindestrich setzen (Tee-Ei). Schreiber, die wollen, dass ihr Text vom Leser leicht verstanden wird (nicht jeder Schreiber will das), sollten, wenn das zweite Teil des Kompositums mit Vokal anfängt, großzügig mit Bindestrichen umgehen (Lese-Erleichterung).
Ich bin nicht der einzige, der zu viele Bindestriche in Texten eher als schwerfällig und störend empfindet.
Zu den drei aufeinanderfolgenden gleichen Konsonanten hat gerade Herr Stirnemann fast alles gesagt, was sich dazu sagen läßt.
Besser sind die neuen Trennungsregeln (s-t; -ck; inte-ressant, anta-gonistisch). Leider erlaubt die Reform auch einige äußerst hässliche Trennungen (A-bend, o-der, Mag-net, Dip-lom); so darf man, muss man aber nicht trennen. Nachdem heutzutage das meiste, was geschrieben wird, nicht mehr auf Setz- oder Schreibmaschinen, sondern auf Computern geschrieben wird, braucht man nicht mehr so oft zu trennen. Das Abtrennen eines einzelnen Vokals (A-bend) ist nie erforderlich.
Erklären Sie mir eines: Warum schafft man erst Trennregeln, von deren Anwendung eigentlich gleich wieder abzuraten ist? Man kann auf Worttrennung schließlich auch ganz und gar verzichten. Wenn ein Text aber doch mit Trennungen gesetzt werden soll, dann sollte es Richtlinien geben, die dem flüssigen Lesen am besten dienlich sind. So ein Quatsch wie Tee-nager folgt derartigen Erwägungen ganz offensichtlich nicht. Und was soll erst hi-nauf, he-ran, vol-lenden, Klei-nod? Klar, man kann auch immer noch sinnvoll hin-auf, her-an, voll-enden und Klein-od trennen, aber wieso läßt die Neuregelung den anderen Unsinn überhaupt zu?
Und daß man jetzt st trennen darf meinetwegen. Das war wirklich fällig. Aber wieso zum Ku-ckuck wird dann die Nichttrennbarkeit von ck eingeführt?!? Man kommt nicht umhin zu glauben, es sei den Reformern nur darum gegangen, möglichst überall irgendwas zu ändern, egal ob es Sinn ergibt.
Eindeutig besser ist die neue ss/ß-Regelung. Wenn man bedenkt, dass sie über 90 % aller Änderungen eines Textes ausmacht, spricht der Saldo für die Reform.
Was man systematisch gesehen für die bislang übliche ss/ß-Schreibung zusätzlich zu den neuen Regeln lernen muß, läßt sich in einem einzigen kurzen Satz zusammenfassen: ß statt ss am Silbenende und vor t. Diese simple Ergänzung verhindert solche Fälle wie Missstand, Schlussstrich, Gussstahl, Basssolo usw., die sehr leseunfreundlich und unästhetisch sind. Das ß als markantes Zeichen (Oberlänge) gliedert zusammengesetzte Wörter fürs Auge besser.
Da ein scharfer s-Laut in deutschen Wörtern meistens am Silbenende sitzt, gibt es bei der bewährten Regelung meistens auch nur zwei Möglichkeiten, wie er geschrieben werden kann: entweder mit s oder mit ß. Die Reformregeln führen zu drei Möglichkeiten: s, ß und ss. Für jemanden, der die Regeln nicht in allen Einzelheiten kennt, ist die Wahrscheinlichkeit eines Glückstreffers also wesentlich geringer.
Die Regeln sind für Grundschulkinder schwer zu begreifen. Vor allem dort, wo nicht hochdeutsch gesprochen wird, ist es für sie extrem schwierig, die vorausgesetzte Länge von Vokalen zu (er)kennen. Weiterhin kommt es ja noch darauf an, ob der Vokal, hinter dem der fragliche s-Laut sich befindet, betont ist und ob in der Grundform des Wortes wieder ein Vokal folgt oder ein Konsonant. Das ist den meisten Schulkindern offenbar zu komplex, jedenfalls zeigt die Studie von Prof. Marx ja eine signifikante Fehlervermehrung in dem Bereich ss/ß-Schreibung nach Einführung der Reform.
Wie bei allen Reformbereichen ist hier wohl in erster Linie das Problem, daß nicht nur die Schulkinder im Alltag ständig unterschiedlichen Orthographien ausgesetzt sind, so daß sich die richtigen Schreibweisen nicht so einfach per Gewöhnung erlernen lassen zumal selbst dort, wo man versucht, die Reform umzusetzen, ziemlich viele Fehler gemacht werden.
Soweit mein Standpunkt. Sie sehen also, dass mir auch nicht alles zu 100 % gefällt. Aber wenn man grundsätzlich für eine Reform ist (siehe oben), darf man nicht erwarten, dass restlos alles nach dem eigenen Geschmack geht.
Wenn Sie dermaßen grundsätzlich für eine Reform sind, daß Sie alles hinnehmen, solange es nur Reform genannt wird, kann man Sie ja theoretisch von jeder Maßnahme überzeugen. Und wenn übrigens nur 10 % der Betroffenen eine Maßnahme gefällt, sollte man eigentlich erwarten, daß es dann nicht nach dem Geschmack dieser kleinen Minderheit geht. In einer echten Demokratie müßte die Sache damit doch geklärt sein (erst recht, wenn es sogar zu einem handfesten Volksentscheid kommt). Sie sind doch wahrscheinlich auch Demokrat, oder?
Aber immerhin sind Ihnen ja einige Macken der Rechtschreibreform bereits aufgefallen. Ich hoffe, meine obigen Ausführungen haben Ihnen gezeigt, daß eigentlich überall der Wurm drinsteckt. Die Reformer hatten ja ursprünglich ganz andere Pläne. Wenn man grundlegende Bereiche der Orthographie praktisch noch einmal ganz neu erfinden würde, wie es einige von ihnen ja durchaus vorhatten, dann könnte man natürlich viel konsistentere Regeln aufstellen. Aber was dabei herauskäme, wäre derart anders, daß alles bisher Geschriebene vor allem für spätere Generationen so gut wie unlesbar würde (man bedenke, was für Probleme vielen heute schon Frakturschrift bereitet). Die jetzige Reform ist natürlich kein Umsturz, sondern eine einzige Flickschusterei, die erwiesenermaßen die Schwierigkeiten der Rechtschreibung noch erheblich verschlimmert, angerichtet von Leuten, die sich nun einmal in den Kopf gesetzt hatten, die Rechtschreibung irgendwie zu verändern. Sie hatten sich in den Glauben hineingesteigert, auf diese Weise würden sich die Gesellschaftsverhältnisse verbessern lassen. Wie verbohrte Kommunisten. Falls sie mittlerweile ihre Fehleinschätzung erkannt haben, ist es ihnen natürlich peinlich, das zuzugeben. Das gilt ebenso für all ihre Erfüllungsgehilfen, vom Kultusminister bis zum Chefredakteur. Obwohl auch in solchen Reihen Einsicht und Reue immer offenbarer werden.
Ihre Hinweise, Herr Melsa, auf stets folgsame Duden-Beachtung sind wieder Argumenta ad hominem. Kein Kommentar dazu.
Das kann man mit einem gewissen Tunnelblick so sehen. Oder bin ich es, dem etwas entgangen ist? Was ist denn an meinen Argumenten geschummelt gewesen? Gerade beim Duden dürfte die erwähnte Reue übrigens am größten sein.
Ihr C.M. aus der V. in H.
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P.S.: Herr P.S., was mich noch interessieren würde:
Schade, dass Sie den im Internet angemessenen Ton nicht ganz getroffen haben.
- Worauf beziehen Sie sich da denn? War jemand zu frech oder beleidigend? Oder was ist gemeint?
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