Schriftlinguistik 2
Zitiert aus: Studienbücher zur Linguistik: Christa Dürscheid, Einführung in die Schriftlinguistik, Westdeutscher Verlag, 1. Auflage September 2002; 24,90 Eur:
Seite 158 ff:
4.5 Wortgruppenschreibung
4.5.1 Schreibung von Wörtern innerhalb syntaktischer Einheiten
Seite 159 ff:
4.5.2 Die Groß- und Kleinschreibung
Wie Lutz Maas (1992) eindrucksvoll gezeigt hat, geht es bei der satzinternen Großschreibung überhaupt nicht darum, eine Wortart zu kennzeichnen. Gekennzeichnet wird vielmehr das Wort, das im Satz als Kern einer nominalen Gruppe fungiert.
Jeder Kern ist expandierbar, kann also um weitere Konstituenten ergänzt werden. Maas (1992) bezieht seine Grundregel zur Großschreibung im Satzinnern auf diesen Begriff des Kerns. Er formuliert folgendermaßen:
Maas'sche Regel zur Groß- und Kleinschreibung
Der Kern jeder nominalen Gruppe im Satz wird mit einem initialen Großbuchstaben markiert.
Allerdings ist das nur gültig, wenn die Regel auf Wörter bezogen wird, die in expandierbaren Nominalgruppen stehen. Pronomen z.B. sind nicht expandierbar.
Definition von 'Kern'
Ein nominales Element ist in syntaktischer Hinsicht nur dann Kern einer nominalen Gruppe, wenn es expandierbar ist.
Maas legt die Großschreibung im Satzinnern nicht auf eine Wortart fest. Es können auch andere Wortarten diese Position einnehmen.
Günther (1998): Ein solcher Kern wird ein sprachlicher Ausdruck nicht durch Geburt, sondern durch die syntaktische Struktur, in der er vorkommt.
Seite 163 ff:
4.5.3 Getrennt- und Zusammenschreibung
Die Getrennt- und Zusammenschreibung steht im Dienst der grammatischen Strukturierung des Satzes und damit vorrangig im Interesse des Lesers.
Unsicherheiten treten dann auf, wenn sich die Wörter in einem Univerbierungs- oder Inkoporierungsprozeß befinden. Unter Univerbierung versteht man den Prozeß des Zusammenwachsens einer zwei- oder mehrgliedrigen syntaktische Konstruktion zu einem Wort. Eine Inkoporierung liegt vor, wenn das Objekt eines transitiven Verbs zum Erstglied eines komplexen Verbs wird.
An dieser Stelle möchte ich (d.i. Christa Dürscheid) einen alternativen Ansatz zur Unterscheidung von Wortgruppe/Wort vorstellen. Dabei nehme ich auf Maas (1992) Bezug. Wie auch bei der Analyse der Großschreibung im Satzinnern rückt Maas die Tatsache in den Vordergrund, daß dem Leser mit der Getrennt- und Zusammenschreibung Instruktionen zur Strukturierung des Textes gegeben werden sollen. Der Text wird durch die Leerstellen untergliedert. Ein Spatium wird jeweils an einer syntaktischen Sollbruchstelle gesetzt (vgl. Maas 1992). Eine Regel, die Günther (1997) im Anschluß an Maas (1992) aufstellt:
Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung
a) Wo keine syntaktische Sollbruchstelle vorliegt, wird zusammengeschrieben (vgl. Maas 1992).
b) Innerhalb von syntaktischen Wörtern gibt es keine Leerzeichen (vgl. Günther 1997).
Nach Maas (1992) sind syntaktische Sollbruchstellen solche Stellen, an denen die Möglichkeit besteht, die Planung im Satz zu verändern, im gleichen oder in einem anderen Muster fortzufahren. An diesen Stellen sind a) Einschübe möglich, kann b) eine Substitution vorgenommen werden und c) das Muster durch Umstellung revidiert werden. Sieht man von der Umstellung ab, werden die im Satz vorhandenen Wörter von diesen Operationen nicht tangiert. Betroffen ist die Leerstelle zwischen den Wörtern, nicht das Wort selbst.
Das Wort existiert also nicht per se, es erscheint nur im Text. Damit ist der Wortbegriff an Leerzeichen gekoppelt, doch nicht über Leerzeichen definiert. Es resultiert aus den syntaktischen Operationen, die an bestimmten Stellen in der scriptio continua möglich sind.
Kommen wir nun abschließend zu der von Günther (1997) formulierten Regel, nach der innerhalb von syntaktischen Wörtern keine Leerstellen auftreten. Formuliert man diese Regel als Schreibanweisung um, dann lautet sie: Da, wo syntaktisch nichts passiert (Günther 1997), schreiben wir zusammen. Eben dies ist, so Günther, der Grund dafür, daß im Deutschen Wörter wie 'Haustür', 'Fernsehdirektübertragung' etc. zusammengeschrieben werden. Zwischen den Teilen besteht keine syntaktisch definierte Beziehung, es 'passiert nichts'. Wenn hingegen von der Tür des Hauses die Rede ist oder von porte de la maison, dann liegen die Dinge anders. Hier gibt es Stellen, an denen syntaktische Operationen vorgenommen werden können. Dabei geht es nicht darum, ob eine solche durchgeführt wird; wichtig ist, ob sie durchgeführt werden kann. Liegt keine Inkoporation vor, wird man getrennt schreiben.
Allerdings ist anzumerken, daß diese Überlegungen in der Neuregelung zur deutschen Rechtschreibung nicht berücksichtigt wurden. Man schreibt solche Verbindungen in allen Kontexten getrennt.
Hartmut Günther (1997) stellt hierzu mit Blick auf Schreibungen wie 'Eis laufen' fest: Das neue Schriftbild, in dem immer getrennt wird, signalisiert durch das Spatium syntaktische Analysierbarkeit, wo keine vorhanden ist; dies wird verschärft durch die Vorschrift, den nominalen Teil stets groß zu schreiben. In der Tat sind die beiden Syntagmen 'Eis laufen' und 'Eis essen' nur an der Oberfläche parallel. Das Substantiv 'Eis' stellt in der Konstruktion 'Eis laufen' keine selbständige Ergänzung dar, es rückt in die Nähe eines Verbzusatzes. Dies sieht man daran, daß es nicht in den Plural gesetzt werden und weder einen Artikel noch ein Adjektiv zu sich nehmen kann (vs. 'das Eis essen'). Die nunmehr obligatorische Getrenntschreibung steht damit, so Günther (1997), im Gegensatz zum wohldokumentierten Trend zur Univerbierung in der gesprochenen und der geschriebenen deutschen Sprache in den letzten 500 Jahren. Deutlicher noch sagt es Eisenberg (1998a): Ein klarer Systemverstoß".
Seite 258
7. Wiederholungsfragen
Seite 261 ff.
Fragen zu Kap. 4
19. Hartmut Günther schreibt in Bezug auf Beispielsätze wie 'Hans möchte gern mit seinen Kindern Eis laufen' bzw. 'Hans möchte gern mit seinen Kindern Eis kaufen': Die Schreibung signalisiert (jedenfalls dem heutigen Leser), daß 'Eis' in allen Sätzen ein Substantiv ist, das eine syntaktische Beziehung zum Verb hat. Eine solche Beziehung gibt es beim 'Eislaufen' natürlich nicht (1997).
Erläutern Sie, worin der syntaktische Unterschied zwischen 'Eis laufen' und 'Eis kaufen' besteht und diskutieren Sie vor diesem Hintergrund die Tatsache, daß beide Konstruktionen nach der Neuregelung getrennt geschrieben werden.
Seit 268 ff.
Lösungsvorschläge zu Kap. 4
19. In der Konstruktion 'Eis kaufen' stellt 'Eis' ein Objekt zu dem Verb 'kaufen' dar, es tritt also in eine syntaktische Beziehung zum Verb. In 'Eis laufen' hingegen handelt es sich nicht um eine selbständige Ergänzung. 'Eis' kann hier weder einen Artikel noch ein Adjektiv zu sich nehmen. Das Substantiv ist hier in das Verb inkorporiert. Mit anderen Worten: Eine Beziehung zwischen 'Eis' und 'laufen' existiert nur auf lexikalischer, nicht auf syntaktischer Ebene. In solchen Fällen sollte man die Substantiv-Verb-Verbindung zusammenschreiben. In der Neuregelung wurde dem nicht Rechnung getragen, alle trennbaren Bildungen vom Typ 'Substantiv + Verb' werden getrennt geschrieben. Somit werden syntaktisch unterschiedliche Fälle orthographisch gleich behandelt.
Eine persönliche (d.i. H.U.) Bemerkung zu diesem Buch:
Ich finde es vorbildlich, daß alle darin enthaltenen Zitate in ihrer originalen Rechtschreibung abgedruckt sind und dadurch keine Geschichtsfälschung begangen wird.
– geändert durch Henning Upmeyer am 20.02.2003, 20.36 –
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