Syntax: ein Rätsel
Bevor der Strang abgeschossen wird, erlaube ich mir, noch einmal die Frage nach Haupt- und Nebensatz bzw. Matrix- und Konstituentensatz aufzugreifen. Der Beipsielsatz lautete: Ein paar weitere könnten wir schon noch brauchen, finde ich.
Dies analysierte Professor Ickler wie folgt: ich finde ist der Matrixsatz, das Akkusativobjekt ist durch den uneingeleiteten Konstituentensatz realisiert. Er steht im Vorfeld, so daß die grundlegende Verbzweitstellung des finiten Verbs gewahrt ist. (Woraus insgesamt hervorgeht, daß die Rede vom Hauptsatz mit Recht abgeschafft ist. Wenn man den hier ja notwendigen Nebensatz wegläßt, bleibt ein Satzrest übrig, kein Hauptsatz.)
Das ist für sich gesehen ganz eindeutig. Aber ist es das wirklich? Ich habe mir folgende Herleitung überlegt.
Ich sage: Wir haben einige Antworten. Es könnten mehr sein. Das wäre gut.
Struktur:
Ich sage: Hauptsatz. Hauptsatz. Hauptsatz.
Nun lassen wir zwei Hauptsätze weg:
Ich sage: Es könnten mehr sein.
Struktur:
Ich sage: Hauptsatz.
Nun lassen wir die Anführungszeichen weg:
Ich sage: Es könnten mehr sein.
Struktur:
Ich sage: Hauptsatz.
Nun ersetzen wir sagen durch finden:
Ich finde: Es könnten mehr sein.
Struktur:
Ich finde: Hauptsatz.
Nun ersetzen wir den Doppelpunkt durch ein Komma:
Ich finde, es könnten mehr sein.
Struktur:
Ich finde, Nebensatz (bzw. Konstitutentensatz)!!
Denn wir hatten ja bereits geklärt:
Es könnten mehr sein, finde ich.
Struktur:
Nebensatz (bzw. Konstituentensatz), finde ich.
So gesehen, hängt es von der Zeichensetzung ab, ob es sich bei Es könnten mehr sein um einen Hauptsatz oder um einen Nebensatz handelt. Aber das kann auch nicht sein, denn die grammatische Struktur muß ja schon in der gesprochenen (oder gedachten) Sprache vorhanden und bestimmbar sein, nicht erst, wenn man auf der Ebene der Verschriftung entweder einen Doppelpunkt oder ein Komma wählt.
Wenn man die Herleitung ernst nimmt, müßte es sich bei dem angeblich eindeutigen Nebensatz bzw. Konstituentensatz genausogut um einen Hauptsatz handeln können. Das läßt sich plausibel machen, wenn man wieder mehr Hauptsätze auch bei der Konstruktion des ursprünglichen Beispielsatzes dazuhäuft und den Matrixsatz (finde ich) optisch herunterstuft:
Wir haben schon interessante Beiträge. Es könnten mehr sein. Das wäre gut. (Finde ich.)
Offensichtlich handelt es sich wieder um selbständige Sätze, um Hauptsätze. Ihre Selbständigkeit wird hier zusätzlich durch die Einklammerung des Matrixsatzes gekennzeichnet, der dadurch zu einer verzichtbaren Anmerkung heruntergestuft wird.
Zusätzlich kann man argumentieren, daß Finde ich in Wirklichkeit Das finde ich bedeuten könnte, das Akkusativobjekt wurde also einfach der Kürze wegen weggelassen und muß daher nicht unbedingt im umgebenden Text aufgesucht werden.
Demnach wäre es vom sprachlichen Material her nicht eindeutig, daß es sich um Matrix- und Konstituentensatz handelt; es könnte sich auch um Hauptsatz und (verkürzten) Hauptsatz handeln. In diesem Fall würde man nur ein bißchen anders schreiben:
Es könnten mehr sein. (Finde ich.)
Oder:
Es könnten mehr sein. Finde ich.
Oder schlicht:
Es könnten mehr sein. Finde ich.
Stimmt das? Wenn die Grammatiker auch diese Nuß knacken können, gebe man dem Strang den Rest.
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