Die Masstgans
Seit Anfang November befand ich mich regelrecht im Vollstreß, durchwühlte am Tage stundenlang die Gefriertruhen in sämtlichen Verbrauchermärkten, und selbst nächtens flatterte sie mich an: meine „Masstgans“.
Das Schlimme daran: Ich finde sie nicht! Aber sie weiß ganz genau, wo ich mich aufhalte. Das macht mich verrückt.
Mein Psychiater hat das als Masstgans-Neurose analysiert und hat mich aufgefordert, über die Ursachen nachzudenken, mein ganzes Leben rückwärts abzuspulen, bis hinunter zu den ersten Kindheitstagen; und Zeit nehmen solle ich mir dafür, dann würde das schon wieder werden.
Neulich, etwa um den St. Martinstag herum, hatte ich dann meinen ersten Alptraum. Da hat mich das Viech sogar gepickt, während ich schlief, und richtig wehgetan hat das.
Unmittelbar nach dem Erwachen, bin ich an meinen Schreibtisch gehumpelt – der Biß hat immer noch geschmerzt –, und ich habe meine erste persönliche Traumanalyse gemacht.
Gleich am Anfang fiel mir dieser Augst ein – der von der Rechtschreibreformkommission – und bereits bei meiner ersten nächtlichen Privatsitzung, spürte ich, daß dieser Augst für mich, meine Krankheit und mein Seelenheil bedeutungsvoll werden würde.
Sofort verliebte ich mich in seine klare Sprache. Sie stellte die Lösung meines gesamten Problems dar.
„Die Gans hat mir wehgetan“, formulierte ich auf meinem Selbstanalysezettel. „Gänse müssen mir nicht Leid tun!“
Gänse taten mir fortan nicht mehr leid, sie mußten sich vielmehr vorsehen, daß ich ihnen nicht den Hals umdrehte, und ich wurde am darauffolgenden Tage richtig feurig. Bei meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Wühlen in den Gefriertruhen der Verbrauchermärkte, stammelte ich stets die Worte vor mich hin: „Recht so, Recht so!“ wobei mich die anderen Kunden recht seltsam anschauten …
Vorübergehend ist das ja so, daß sich die Krankheit kurzzeitig verschlimmert, wenn sie am Abklingen ist. „Wenn es juckt, dann heilt’ s“, sagt man im Volksmund, und deshalb habe ich weitergemacht, bin richtig lästig geworden und habe mich sogar mit den Marktleitern angelegt.
Ob sie denn keine Masstgans hätten – eine mit Doppel-S – habe ich sie gefragt; sie hätten ja schließlich auch Kloßteig mit Doppel-S, und für derartige Fragen hätte ich in einem Falle beinahe sogar Dresche gekriegt.
Zum Glück habe ich gestern wieder geträumt, weil mich die Gans angeflattert hat.
Der Traumanlaß und die Traumturbulenz waren mir sofort klar. Ich brauche doch eine Gans als Weihnachtsbraten, und Weihnachten rückt doch immer näher.
Bei der weitergehenden Analyse bin ich dann ganz tief hineingerutscht in die Kindheitspantoffel.
Da sah ich mich plötzlich beim Aufsatzschreiben in der ersten Volksschulklasse (kann auch die zweite gewesen sein).
„Wir haben eine polnische Masstganz gegessen“, formulierte ich stolz zum vorgegebenen Thema „Unser Weihnachtsabend“.
Und dann fing ich auch noch das Bild ein von der Herausgabe des Aufsatzes.
Der Lehrer sagte zu mir, daß man die Mastgans mit einfachem „s“ und ohne „z“ schreiben müsse.
Ich sah auch noch – sogar in bunt, obwohl ich normalerweise nur schwarzweiß träume – daß ich widersprochen habe; daß ich gesagt habe, daß das Ding fett und massig gewesen sei, und daß wir eine ganze Ganz gegessen hätten.
Trotzdem bekam ich eine Fünf.
Jedenfalls hat mich mein letzter Traum der Problemlösung nähergebracht, und mein Symptom, in Tiefkühltruhen wühlen zu müssen, ist heute noch nicht aufgetreten.
Ich werde dem Augst einen Brief schreiben, ein kleines Bißchen an seine Liebe zum Kind erinnern (hoffend darauf, daß das keine Pädophilie ist), ihn emotional zu beeindrucken versuchen mit der Schilderung meiner so tragischen Kindheitserlebnisse, und ich werde ihn bitten, daß er dafür Sorge trägt, daß die geflügelverarbeitende Industrie (mich einschleimend schreibe ich da natürlich „Geflügel verarbeitende Industrie“) verpflichtet wird, „Masst“ statt „Mast“ zu schreiben, weil „mässten“ was mit „Masse machen“ zu tun hat …
Und ich bin überzeugt, daß dieser größte Etymologe der deutschen Nachkriegsgeschichte ein offenes Ohr für mich hat.
Diese Weihnachten allerdings hole ich mir was bei McDonald, nicht daß ich mir am Ende gar noch eine Erkältung an der Tiefkühltruhe zuziehe.
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nos
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