Re: Kohärenz
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler
Gallmanns Bearbeitung der Kommafrage war schon immer weit besser als das, was die Rechtschreibreform daraus gemacht hat. Das konnte man bereits im Handbuch Rechtschreibung von Gallman und Sitta erkennen, das 1996 in der Schweiz erschien. Auch Eisenberg stellt die Sache im wesentlichen richtig dar. Beide stützen sich auf den von Gunnar Bech geschaffenen Begriff der Kohärenz. In der Sache liegt dasselbe Prinzip aber auch der herkömmlichen Regelung zugrunde, die ja auch von Gallmann im großen und ganzen gegen die Neuregelung verteidigt wird, besonders deutlich in jenem Handbuch.
Den Eindruck, daß Gallmann die herkömmliche Regelung verteidigen würde, hatte ich überhaupt nicht. Er hat in der Vorlesung im Gegenteil recht deutlich darauf hingewiesen, wo vom Kriterium der Kohärenz her gesehen deren Defizite liegen.
Zitat: Die herkömmliche, im Duden niedergelegte Regelung hatte nur noch den zusätzlichen Gesichtspunkt des Umfangs der Infinitivgruppe, was einem rhythmischen Bedürfnis, nicht syntaktischen Regeln entspricht.
Wenn ich Gallmann richtig verstanden habe, wurde das formal als Kriterium des Umfangs gesehen nicht konsequent gehandhabt, so daß es zu Ausnahmen von Ausnahmen und Kann-Regeln kam (vgl. seinen Aufsatz, S. 1720).
Zitat: Und bei Gallmann kommt als Besonderheit hinzu, daß er das Herkömmliche nicht im geringsten zu respektieren bereit ist und daher immer wieder zu radikalen Einschnitten neigt, wie sie seiner jeweils aktuellen Ansicht entsprechen. Er will alle Ausnahmen beseitigen, zum Beispiel auch die Kleinschreibung in bei weitem usw., ohne Rücksicht auf Verluste.
Ist es das, was Sie an anderer Stelle sein Steckenpferd nannten, oder nur ein Grundzug seiner Herangehensweise an die Rechtschreibung? Hätte er Probleme, den Einwand, was die Grammatik verbiete, könne die Orthographie nicht erlauben, zu entkräften oder einfach beiseite zu wischen? Welche Teile der Neuregelung tragen denn (vermutlich) Gallmanns Handschrift, bzw. wo hat er maßgeblich etwas beigetragen?
Zitat: Die Neuregelung hat den Fehler, den Begriff des hinweisenden Wortes nicht zu definieren und nur durch die überraschenden Beispiele anzudeuten, daß es dazugehört, substantivische Wortgruppen aber nicht. Laut Eisenberg erlaubt die Neuregelung übrigens auch er scheint, zu schlafen. Wenn das zutrifft, wäre es ein weiterer Grund, sie abzulehnen.
Eisenberg hat recht. Relevant ist hier Paragraph 76: Bei Infinitiv-, Partizip- oder Adjektivgruppen oder bei entsprechenden Wortgruppen kann man ein (gegebenenfalls paariges) Komma setzen, um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen bzw. um Missverständnisse auszuschließen. Formal gesehen, kann man bei er scheint, zu schlafen die Möglichkeit für sich an Anspruch nehmen, die Gliederung des Ganzsatzes deutlich machen zu wollen man grenzt die Infinitivgruppe ab.
So ein ähnliches Beispiel hat Gallmann in seiner Vorlesung angeführt und darauf hingewiesen, daß die Neuregelung nur funktioniert, wenn einen das eigene Sprachgefühl davon abhält, dieses Komma zu setzen. Er hat betont, daß die Freigabe in § 76 mit dem Vertrauen auf das Sprachgefühl verbunden ist. Es wird aber ein Lehrer einem Schüler, der jenes Komma gesetzt hat, dasselbe nach den Kriterien der Neuregelung nicht als falsch anstreichen können. Wie sinnvoll das für die Entwicklung des Sprachgefühles ist, ist klar.
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Ich frage mich, wie die Diskussion an dieser Stelle weitergehen kann. Zwei (konträre) Richtungen fallen mir ein: Zum einen könnte man versuchen, die Behauptung zu entkräften, die auf der Kohärenz beruhende Regel sei grammatisch zu anspruchsvoll und daher dem allgemeinen Publikum nicht vermittelbar. Dieses konkrete Problem scheint mir zweiteilig zu sein: Es kommt sowohl darauf an, zu entscheiden, ob ein Komma gesetzt werden muß, als auch, wenn ja, wo. Letzteres erscheint mir der insofern wichtigere Punkt zu sein, als daß man erst einmal erkannt haben muß, was zur Infinitivgruppe gehört, um deren Kohärenz bzw. Satzwertigkeit beurteilen zu können; vielleicht gibt der Begriff der Satzwertigkeit dabei bereits eine gewisse Hilfestellung, die Inifinitivgruppe zu identifizieren.
Mir schwebt vor, eine darauf aufbauende Probe durchzuführen, bei der die Infinitivgruppe komplett aus dem Satz entfernt wird. Ich skizziere mal die möglichen Fälle, ohne alles zu Ende durchdacht zu haben: Wenn ein in sich geschlossener Satz übrigbleibt (der evtl. noch umgestellt werden muß: Ohne einen Schaden anzurichten, ist das Wasser wieder abgeflossen. => Das Wasser ist wieder abgeflossen.), war sie in den allermeisten Fällen satzwertig: Die Skifahrerin hat damit gerechnet, doch noch zu gewinnen. (Selten dagegen: Sie ist diese Aufgabe zu lösen fähig.) Wenn man ein zusätzliches Wort (wie das, dies, es etc.) ergänzen muß, um zu einem vollständigen Satz zu kommen, und wenn dieses Komplettierungswort nicht an der gleichen Stelle im Satz ergänzt werden kann, wo zuvor die Infinitivgruppe stand, war letztere ebenfalls satzwertig: Er wagte es nicht, das Zimmer zu betreten. Wenn kein vollständiger Satz verbleibt, aber eine solche Ergänzung nicht möglich ist, war die Infinitivgruppe kohärent: *Ich habe den Schalter drehen können. Unklar ist die Situation, wenn das Komplettierungswort an der Stelle ergänzt werden kann, die zuvor die Infinitivgruppe innehatte: Yvonne hat den Schalter zu drehen es versucht. Dagegen: Er vermied, ihr zu begegnen es. Bei ins Vorfeld verlagerten Infinitivgruppen kann man versuchen, diese Unklarheit zu beseitigen, indem man zunächst die Infinitivgruppe nach rechts umstellt und erst dann die Ersetzung ausprobiert. Aha! Vielleicht ist diese ganze Fallunterscheiderei ja überflüssig, und es genügt zu prüfen, ob eine Umstellung überhaupt möglich wäre, ohne dabei ein Komplettierungswort einfügen zu müssen. Wie gesagt, das ist nur ein Versuch eines Ansatzes.
Zum anderen könnte man aber den Anspruch in Frage stellen, eine Regel aufzustellen, die in vollem Umfang vermittelbar sein muß. Dieser Anspruch führt zwangsläufig dazu, daß das Niveau dessen, was eine solche Regel enthält, mehr oder weniger durch das Niveau des Adressaten beschränkt ist. Sinnvoll ist eine solche Beschränkung nur bei der Auswahl des Stoffes, der vermittelt werden soll, nicht aber bei seinem eigentlichen Inhalt wie es ja in den anderen Schulfächern geschieht: Schrittweise wird man an komplexere Dinge herangeführt, das zuvor Gelernte bleibt gültig, stellt sich aber evtl. als Spezialfall heraus, zu dem besondere Voraussetzungen gehören. Welchen Sinn hat es denn, Schülern in einem Alter einen Stoff vermitteln zu wollen, der in seiner Komplexität deutlich über das hinausgeht, was ihrem Erfahrungs- und Entwicklungsstand entspricht, und daraufhin das zu Vermittelnde in seiner Komplexität künstlich und nachhaltig zu beschneiden? (Das erinnert mich an das Märchen von Aschenputtel: Als der Schuh bei der Anprobe nicht paßte, mußte ein Teil des [zu großen] Fußes dran glauben.) Es darf nicht sein, daß Kindern etwas als richtig beigebacht wird, was sie als falsch oder schlecht erkennen müssen (bzw. müßten), sobald sie entsprechende Fortschritte in dem betreffenden Gebiet gemacht haben.
In diesem Lichte betrachtet, halte ich es für umso wichtiger, daß das reformierte Regelwerk durch unabhängige Wissenschaftler begutachtet wird, die nicht aus der Perspektive heraus urteilen, daß die gesamte Regelung der, salopp formuliert, Grundschultauglichkeit unterliegen muß.
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In habe noch eine grundsätzliche Frage: Ist eine Infinitivgruppe, die, anhand des Kohärenzkriteriums beurteilt, satzwertig ist, bereits als Nebensatz anzusehen, oder ist Nebensatz ein für eine ganz bestimmte Fallgruppe reservierter Begriff? (Wäre eine satzwertige Infinitivgruppe ein Nebensatz, wäre nach § 74 immer ein Komma fällig!)
– geändert durch J.-M. Wagner am 18.06.2003, 22.46 –
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Jan-Martin Wagner
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