Re: Falsch und richtig
Zitat: Ursprünglich eingetragen von schubert.hermsdorf
Regeln sind falsch, wenn sie falsch sind. Falsches ist nicht richtig. Niemand ist legitimiert, falsche Regeln aufzustellen. Wenn dennoch jemand falsche Regeln aufstellt, ist seine Legitimation falsch. Mit Hilfe einer falschen Legitimation können nur falsche, niemals jedoch richtige Regeln aufgestellt werden, wer trotzdem fälschlich mit falscher Legitimation falsche Regeln als richtig darstellt, obwohl sie falsch sind, handelt, eben ganz einfach falsch.
Herr Wagner, Sie haben es schon gemerkt: Das ist Unsinn.
Warum sollte es Unsinn sein? Es ist an manchen Stellen etwas überzogen bzw. überzeichnet es die Situation, aber im wesentlichen ist es doch völlig zutreffend. Sie stellen damit der Rechtschreibkommission, den Kultusministern und den sonstigen für die Reform Verantwortlichen ein denkbar schlechtes, aber treffendes Zeugnis aus: Jene haben ihre Legitimation verwirkt. Und dennoch plädieren Sie, Herr schubert.hermsdorf, für »die Wiederherstellung der orthografischen Einheit [...] auf dem Weg über die neue Rechtschreibung«? Was rechtfertigt es, das Regelwerk von Leuten, denen Sie die Legitimation für Entscheidungen über die Rechtschreibung absprechen, als Grundlage zur Entwicklung einer einheitlichen Rechtschreibung zu verwenden? Diese Frage ist keineswegs rhetorisch gemeint, sondern höchstens ironisch, und vor allem soll sie Sie auf den Haken aufmerksam machen, den ich in dem von Ihnen als realistisch angesehenen Weg sehe.
Ganz im Ernst: Was spricht in Ihren Augen für diesen Weg, warum sollte die Wiederherstellung der orthographischen Einheit nur auf dem Weg über die neue Rechtschreibung realistisch sein?
Zitat: Linguistik ist keine Naturwissenschaft. Wenn sie versucht, den Gegensatz zwischen falsch und richtig als Naturgesetz und nicht als Konvention darzustellen, kommt sie ins Rutschen; dort wo sie etwas Reales aussagen will, versucht sie, Normen zu setzen.
Warum sollte Linguistik keine Naturwissenschaft sein? Sie wird zwar zu den Geisteswissenschaften gezählt, aber wie scharf ist die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften; anhand welcher Kriterien sollte man beurteilen, in welchen Bereich eine Wissenschaft fällt? Legt nicht eine strikt deskriptive Linguistik ein bemerkenswert naturwissenschaftliches Verständnis des eigenen Tuns an den Tag? Außerdem gibt es ja das folgende philosophische Problem: Die Grundlage aller Naturwissenschaften ist die Mathematik, und das ist eine Geisteswissenschaft. Sind nicht somit alle Naturwissenschaften letztlich geisteswissenschaftliche Spezialdisziplinen?
Aber selbst wenn die Linguistik keine Naturwissenschaft ist sollte das bedeuten, daß in der Linguistik wahr und falsch eine andere Bedeutung haben? Wollen Sie andeuten, daß in den Geisteswissenschaften nicht die normale Logik gilt? (Das wäre doch absurd, denn was wäre dann noch wissenschaftlich an den Geisteswissenschaften?) Nein, das wollen Sie bestimmt nicht aber was wollen Sie stattdessen damit sagen?
Auch ein Naturgesetz gilt nicht absolut, sondern beruht auf Erfahrungen, systematischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen die manchmal geradezu abwegig erscheinen. Einstein kam zu dem Schluß, daß der Wert der (Vakuum-) Lichtgeschwindikgkeit absolut gilt und eine Konstante ist, die nicht vom Beobachter abhängt. (Das ist bereits das entscheidende Gegenargument zu der oft gehörten lapidaren Bemerkung, alles sei relativ das stimmt nicht, denn die Lichtgeschwindigkeit ist nicht relativ, sondern absolut. Außerdem und darauf hat Bertrand Russel hingewiesen kann es schon deshalb nicht stimmen, weil, wenn alles relativ wäre, es nichts mehr gäbe, zu dem es relativ sein könnte.) Dieses Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit widerspricht der alltäglichen Erfahrung: Wenn ein Fußgänger im Korridor eines Eisenbahnwagens entlanggeht und der Korridor frei ist, bewegt er sich (auf den fahrenden Zug bezogen) in etwa mit der gleichen Geschwindigkeit wie ein Fußgänger, der auf einem Weg neben dem Bahndamm in die gleiche Richtung spaziert einfach weil sich Fußgänger unabhängig davon, wo sie sich befinden, mit der gleichen Geschwindigkeit (auf den jeweiligen Fußboden bezogen) gehen. Insgesamt, d. h. auf den den Erdboden bezogen, ist die Geschwindigkeit des Fußgängers im Eisenbahnwagen natürlich viel größer als die desjenigen neben dem Bahndamm auf den Erdboden bezogen, profitiert der Fußgänger im Zug von der Geschwindigkeit, mit der der Zug die Schienen entlangfährt. (Das ist der Grund, warum wir u. a. mit dem Zug fahren oder mit dem Flugzeug fliegen: Wir bleiben zwar im Prinzip immer Fußgänger, kommen aber ganz schnell voran.) Ersetzt man die Fußgänger im und neben dem Zug durch Lichtblitze, die sich im und neben dem Zug ausbreiten, und mißt ihre Geschwindigkeit jeweils entsprechend im und neben dem Zug, bekommt man natürlich wie bei den Fußgängern jeweils die gleiche Geschwindigkeit. Was ist nun mit dem Lichtblitz im Zug, wenn man ihn vom Bahndamm aus betrachtet (wie zuvor den Fußgänger im Zug)? Profitiert der auch von der Geschwindigkeit des Zuges und ist schneller als der Lichtblitz neben dem Bahndamm? Einstein hat erkannt, daß es sinnvoll ist zu sagen, daß das nicht der Fall ist: Vom Bahndamm aus gesehen ist der Lichtblitz im Zug nicht schneller als der neben dem Bahndamm (und umgekehrt ist der neben dem Bahndamm, vom Zug aus gesehen, nicht langsamer als der im Zug)! Das ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, daß die Lichtblitze sich immer gleich schnell bewegen, egal, ob man vom Zug oder vom Bahndamm aus schaut; das bedeutet es, daß die Lichtgeschwindigkeit nicht vom Beobachter abhängt.
[Des Rätsels Lösung ist nach der speziellen Relativitätstheorie, daß die beiden Beobachter quasi mit zweierlei Maß messen, und zwar jeder mit seinem eigenen. Längen und Zeitdauern des jeweils anderen Beobachters stimmen nicht mit den eigenen überein, sie scheinen kürzer (bewegter Längenmaßstab) bzw. länger (bewegte Uhr) zu sein. Das führt dazu, daß man Geschwindigkeiten, die mit den verschiedenen, nicht identischen Maßen der beiden relativ zueinander bewegten Beobachter gemessen wurden, nicht einfach addieren (bzw. subtrahieren) darf, sondern man muß die Umrechnung zwischen den jeweiligen Längen- und Zeitmaßen berücksichtigen. Bei der resultierenden sogenannten Einsteinschen Geschwindigkeitsaddition kommt für den jeweils anderen Beobachter ebenfalls Lichtgeschwindigkeit heraus, wenn einer von beiden schon gemessen hat, daß sich etwas mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Weil die spezielle Relativitätstheorie insofern dem gesunden Menschenverstand widerspricht, gibt es Leute, die sie rundweg ablehnen. Einstein soll dazu gemeint haben (sinngemäß nach meinem Physiklehrer zitiert): Der gesunde Menschenverstand das ist die Summe aller bis zum 18. Lebensjahr erworbenen Vorurteile.]
Dieses Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat immer wieder zu sinnvollen Interpretationen von Experimenten geführt, und in diesem Sinn ist es richtig und ein Naturgesetz; es ist eines der Axiome der (speziellen) Relativitätstheorie. Sollte es eines Tages ein Experiment geben, das zeigt, daß dieses Prinzip nicht aufrechtzuerhalten ist, dann haben die Physiker ein erhebliches Problem, weil eine ihrer wichtigsten Theorien zusammenbricht. Eine andere Möglichkeit, dieses Naturgesetz zu Fall zu bringen, wäre, die Experimente anders zu interpretieren als über die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit (und es also als solches garnicht erst aufzustellen). Das ist von Leuten versucht worden, die die Relativitätstheorie ablehnen insgesamt bislang ohne Erfolg, soweit ich weiß, aber so genau kenne ich mich da nicht aus. Interessanter ist dagegen, daß eine Konsequenz des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist, daß kein ruhender materieller Gegenstand auf exakt Lichtgeschwindigkeit (oder darüber) gebracht werden kann, und daß es auch keine Informationsübertragung mit Überlichtgeschwindigkeit gibt. Letzteres wird intensiv experimentell untersucht, und es wurde festgestellt, daß es beim sogenannten Tunneln eine Wellenausbreitung mit Überlichtgeschwindigkeit gibt. Diese kann jedoch im Rahmen der klassischen Theorie erklärt werden und stellt keinen Widerspruch zur Relativitätstheorie oder dem Kausalitätsprinzip (erst die Ursache, dann die Wirkung) dar. (Eine empfehlenswerte, weil mir recht verständlich erscheinende Einführung in dieses Thema mit ausführlichen Literaturhinweisen findet sich hier. Ansonsten gebe man Nimtz und Lichtgeschwindigkeit in eine Suchmaschine ein, um sich ein Bild davon zu machen, was rund um dieses Thema alles diskutiert [und z. T. an Schwachsinn verbreitet] wird.)
Und was will ich damit letztlich sagen? Folgendes: Auch ein Naturgesetz ist letztlich nur eine Konvention es ist eine grundlegende Aussage, die sich bewährt hat und die als richtig gilt, solange sie mit dem Experiment und den anderen Naturgesetzen vereinbar ist. Naturgesetze können nur bestätigt oder widerlegt werden, aber nie bewiesen. Auch die Naturwissenschaft geriete auf eine schiefe Bahn, versuchte sie etwas Absolutes auszusagen.
Zitat: Ein konkretes Beispiel: Der 2. Konjunktiv von brauchen heißt bei mir und in allen Grammatiken und Wörterbüchern brauchte. Man kann das auch begründen. Trotzdem sagt und schreibt eine Mehrheit, auch in Norddeutschland, auch im Rundfunk und Fernsehen und nicht korrekturgelesenen Zeitungen (jetzt bitte keine Google-Proben) Wenn ich Geld bräuchte, würde ich .... Die Linguistik kann nun sagen, das sei falsch. Viel wert ist diese Aussage aber nicht. Sie sagt nichts Reales, sondern nur Gewolltes aus. Die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil bräuchte sagt, muss man doch zur Kenntnis nehmen.
Das ist ein Beispiel dafür, was richtig und falsch in einem ganz bestimmten Kontext bedeuten und nur in diesem. Der Kontext ist in diesem Beispiel die Grammatik, nicht die Rechtschreibung. Meine Frage bezog sich auf einen anderen Kontext, und dort kann es durchaus sehr scharf um richtig oder falsch gehen zumindest im Sinne von widerspruchsfrei oder widersprüchlich:
Die reformierte Rechtschreibung enthält widersprüchliche Regeln, diese sind daher falsch das ist eine rein logische Aussage.
Ein Beispiel für einen solchen Widerspruch ist, daß man einerseits Substantive groß schreibt und Adverbien (außer am Satzanfang) klein, andererseits das Adverb (das ist die gesuchte Wortart, Frau Menges!) leid in der Verwendung leid tun groß schreiben soll. Daß dieser Widerspruch allein dadurch sinnvoll bereinigt werden kann, indem letztere Vorschrift als falsch angesehen wird (und zwar genauso falsch wie 2+2=5), habe ich bereits anderweitig begründet.
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Jan-Martin Wagner
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