Sinnvolle und dennoch verselbständigte Regeln
Lieber Herr Fleischhauer,
wenn Sie ein wenig suchen, werden Sie unzählige Regeln finden, die Sie und wir alle ständig (mehr oder weniger gewissenhaft) befolgen, obwohl sie ihren eigentlichen Sinn nur in manchen Fällen der Befolgung unmittelbar erfüllen; manchmal ist diese Sinnerfüllung sogar die absolute Ausnahme. Mein bisheriges Beispiel war das Auf-einer-Hälfte-der-Straße-Fahren (Wie absurd!, könnte man sich wie vor einiger Zeit Professor Ickler naiv stellen). Es kommt nicht immer Gegenverkehr (und nur diesem auszuweichen ist der Sinn dieser Regel; dafür wird sogar in Kauf genommen, daß man genauer hinsehen muß, wo man fährt, und daß man leichter aufs Bankett gerät usw.). Oft kommt kaum oder überhaupt kein Gegenverkehr, und oft kann man das auch hinreichend überblicken. Dennoch ist es viel leichter, die Regel Rechts fahren von ihrem Sinn zu emanzipieren und es sich zur Gewohnheit zu machen, immer rechts zu fahren. Das ist einfacher und sicherer.
Ebenso zählen Sie bei größeren Beträgen wahrscheinlich aus Gewohnheit das Wechselgeld nach, obwohl Sie nur in wenigen Fällen wirklich damit rechnen, daß Sie entweder betrogen werden sollen oder daß sich Ihr Gegenüber irrt. Sie sichern Dateien (das sollten Sie jedenfalls tun), auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß die Festplatte als nächstes abstürzt. Ebenso dort, wo es nicht darum geht, Schäden zu vermeiden, sondern darum, Vorteile zu erarbeiten. So wenden wir alle möglichen Rechtschreibregeln an, auch wenn der Leser im Einzelfall mit nur winzig mehr Mühe einen fehlenden Buchstaben, eine unangemessene Klein- oder Zusammenschreibung o. ä. verdauen würde. Und obwohl der Leser in vielen Fällen auch überhaupt keine Probleme mit einer Regelverletzung hätte. Es ist aber sicherer, besser und vor allem auch einfacher, sich nicht in jedem Fall überlegen zu müssen, ob die jeweilige Regel auch ihren Zweck erfüllt, sondern sie einfach aus Gewohnheit anzuwenden (das funktioniert allerdings natürlich nur bei sinnvollen Regeln; deshalb unser Engagement gegen die neuen Regeln; genauer: gegen viele von den neuen Regeln). Wenn man eine Weile nachdenkt, wird man noch viele auch solcher auf Positives, auf Gewinn gerichteten Regeln finden, auch in anderen Lebensbereichen, die zu befolgen vom Einzelfall her gesehen nicht immer nötig wäre.
Vergleichen Sie einmal folgende Regelformulierungen:
A. Man zählt das Wechselgeld (zur Sicherheit) nach.
B. Im allgemeinen verhindert man durch das Nachzählen des Wechselgeldes, daß man betrogen wird.
A. Man fährt rechts (damit man nicht in die Gefahr gerät, mit Gegenverkehr zusammenzustoßen).
B. Im allgemeinen weicht man beim Rechtsfahren dem Gegenverkehr aus, deshalb fährt man rechts.
A. Man wäscht Salat, bevor man ihn zubereitet (weil man so unter Umständen weniger Schadstoffe und Fremdkörper im Essen hat).
B. Im allgemeinen wäscht man Salat vor der Zubereitung, weil man sich sonst vergiften würde.
Und nun etwas Positives:
A. Man grüßt seine Kollegen, wenn man ihnen bei der Arbeit begegnet (weil sie sich dann nicht mißachtet fühlen).
B. Im allgemeinen grüßt man seine Kollegen, wenn man ihnen Wertschätzung signalisieren will.
Und so weiter. Ich denke doch, man sieht: Die Regel wird geradezu falsch, wenn man so tut, als wenn ihr Zweck ständig erfüllt wird. Man darf deshalb die Regel nicht mit ihrem Sinn verwechseln.
Wie sieht es nun mit der Großschreibung von Substantiven aus? Professor Ickler stellt es bisher so dar, als ob man das groß schreibt, wovon die Rede ist. Dazu ein Beispieltext:
Mein älterer Bruder ist steinreich, aber er hat mir selten etwas geschenkt. Ich habe ihn seit langem nicht mehr gesehen. Mein jüngerer Bruder ist arm wie eine Kirchenmaus, aber er hat mir immer alles gegeben, was ich von ihm brauchte. Ich habe ihn erst gestern wieder getroffen.
Das ist doch ein ganz normaler Text, oder? Professor Ickler tut nun so, als ob in diesem Text von zweierlei die Rede sei: von Bruder und von Kirchenmaus. Hier müssen sich doch jedem Betrachter die Haare sträuben. Wie ich schon sagte, ist es fast unmöglich, die Formulierung wovon die Rede ist nicht wie üblich semantisch zu verstehen, sondern textlinguistisch.
An dieser Stelle sei auch die kritische Frage gestellt, warum der angeblich besonders fruchtbare Ansatz so eine inhaltsleere Bezeichnung bekommt. Natürlich haben wir es mit Sprache zu tun (also Linguistik), und wir hinterfragen die Großschreibung, also ist speziell das Schriftliche (der Text) gemeint. Sonstige Erklärungen der Rechtschreibung haben doch einen ganz eindeutigen Charakter: Betonung, Bedeutung, auch Grammatik sagt etwas Eigenes aus, aber Textlinguistik?
Erschwerend kommt eben hinzu, daß das ganz normale Verständnis, das der Benutzer hat, sobald er wovon die Rede ist liest oder hört, hier gerade ausgeschaltet werden soll. Der normale, verständige Mensch würde doch sagen: Hier ist von zwei Brüdern die Rede (nicht: von Bruder). Davon, daß der eine reich und der andere arm ist (nicht: von Kirchenmaus). Davon, daß der eine der Ältere und der andere der Jüngere ist; davon, daß der eine geizig und der andere spendabel ist; es ist die Rede davon, wann ich die beiden zuletzt gesehen habe. Selbst wenn die Darstellung von Professor Ickler wirklich triftig sein sollte in ihrem Rahmen, ist sie jedenfalls dazu geeignet, den Leser vor großes Rätselraten zu stellen, sobald er die Lehre von der Redegegenstandgroßschreibung mit seinem natürlichen (semantischen) Verständnis ernst nimmt und sie auf konkrete Texte anzuwenden versucht. Ich habe das anhand mehrerer Beispiele zu karikieren versucht; nach der Definition von Professor Ickler ist beispielsweise in dem Satz Ich liebe dich schlicht von nichts die Rede.
Deshalb und aus anderen Gründen habe ich dafür plädiert, zum Beispiel auf Seite 19 nicht auf der regelartigen Formulierung zu beharren: Im allgemeinen nennen die groß geschriebenen Wörter eines Textes das, wovon in diesem Text die Rede ist. Das ist ungefähr so falsch (oder richtig) wie die Feststellung: Im allgemeinen grüßt man diejenigen Menschen höflich, denen man Hochachtung entgegenbringt.
Professor Ickler erläuterte und vor kurzem seinen Ansatz mit den Sätzen Die Römer eroberten Karthago, Die Eroberung Karthagos ... (Fortsetzung weiß ich nicht mehr). Wer sagt eigentlich, daß es die Substantivierung von erobern bzw. die Wahl eines zugehörigen Nomens ist, die das eigentliche Mittel ist, das erobern zum Gegenstand seiner Rede zu machen? Ist es nicht vielmehr so, daß zuallererst das erobern stärker in den Mittelpunkt der Rede gerät, wenn es als Subjekt (genauer: im Kern des Subjekts) auftaucht wobei sich natürlich ein Substantiv als die übliche Konstruktion anbietet?
Denn ich kann doch wohl genauso sagen (häufige Konstruktion, nur nicht so häufig wie mit Substantiv): Den Umsatz innerhalb eines Jahres zu verdoppeln war eine grandiose Leistung. Oder: Allein arbeiten macht mir überhaupt keinen Spaß. Ist hier nicht verdoppeln bzw. arbeiten in ganz plausibler Weise Gegenstand der Rede, nämlich als Kern des Subjekts (um den herum sich nähere Angaben gruppieren können)?
Mir scheint deshalb, daß die Qualität des Substantivs, im allgemeinen den Redegegenstand zu verdeutlichen (sage ich lieber statt: sichtbar zu machen), eher daher rührt, daß es sehr häufig als Kern des Subjekts fungiert sowie als Kern der Objekte. Wenn man dem folgt, müßte man weiterfragen, ob es nicht eher die Nähe zu Eigennamen ist, die hier als Futter für die Gleichsetzung des Substantivs mit dem Redegegenstand in Frage kommt. Wohlgemerkt: Nähe, nicht Gleichrangigkeit!
Denn während Eigennamen normalerweise keine sonstigen Wörter brauchen, um die Rolle des Subjekts oder eines Objekts zu spielen, ist das bei Substantiven anders. So hätte ich in dem vorigen Beispieltext statt "älterer Bruder vielleicht Jürgen sagen können und statt jüngerer Bruder vielleicht Markus. Damit sich grammatisch ein Subjekt ergibt, war noch der Artikel notwendig, und damit die Kategorie wovon die Rede ist ihren vertrauten semantischen Bereich nicht zu verlassen braucht, ist auch jeweils das Adjektiv ein notwendiger Bestandteil des Subjekts.
Vergleiche: Lionel Jospin traf Tony Blair. Oder: Der französische Premierminister traf den britischen Premierminister. Nach Professor Icklers Darstellung ist hier im zweiten Fall mehrfach die Rede von Premierminister. Nach normalem Verständnis ist hier jedoch die Rede vom französischen und vom britischen Premierminister (sowie in zweiter Linie von ihrer Begegnung).
All solche Verwicklungen und Einwände könnte man meines Erachtens vermeiden, wenn man den Aspekt Redegegenstand nicht als Motiv der Großschreibung auf Regelebene darstellt (oder dieses Mißverständnis nahelegt), sondern diesen Aspekt als den Sinn der Substantivgroßschreibung darstellt nicht mehr und nicht weniger.
Schließlich möchte ich Herrn Fleischhauer zustimmen: Auch ich meine, daß die verschiedenen Aspekte des Substantivs normalerweise zusammenwirken, so daß sich insgesamt ein sehr starkes Motiv ergibt, sie groß zu schreiben: Nähe zu Eigennamen, Geschöpflichkeit, Artikelfähigkeit, geeigneter Kern von Subjekt und Objekt und oft auch Redegegenstand (oder vielleicht noch besser: Kern des Redegegenstandes; man beachte die einleitende Formulierung von Professor Ickler auf Seite 44: Durch die Großschreibung in Substantivgruppen ...!). Ich finde es allerdings unzutreffend, das Großgeschriebene und den Redegegenstand annähernd gleichzusetzen, wie es nach meinem Verständnis Professor Ickler in seiner Darstellung unternommen hat.
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