Prof. Gallmanns Vorlesung
Letzten Mittwoch ging es um Nomen-Verb- (N-V-) Verbindungen. Dazu wies Prof. Gallmann auf seinen Artikel «Wortbegriff und Nomen-Verb-Verbindungen» hin (Zeitschrift für Sprachwissenschaft 18.2/1999; Seiten 269304); die Vorlesung (45 Minuten) war eine kompakte Präsentation des darin enthaltenen Stoffes; meine (in dem Aufsatz ausführlich diskutierte) Lieblingsfrage Was ist ein Wort? wurde dabei nur oberflächlich behandelt.
Es ging in der Vorlesung konkret um die Festlegungen von § 55 (4) und § 34 (3), welche die zwei im Zuge der Reform verbleibenden Schreibweisen für Nomen-Verb-Verbindungen darstellen; die Varianten radfahren/ich fahre Rad/ich bin radgefahren und diät leben/ich lebe diät/ich habe diät gelebt wurden abgeschafft. Jetzt gibt es nur noch das Entweder-Oder zwischen den Varianten immer klein und zusammen und immer groß und getrennt. Begründet wurde diese Reduktion auf zwei Fälle damit, daß es darum ging, einen komplizierten Sachverhalt alltagstauglich zu machen, und dazu wurde obige Konvention eingeführt, die die Handhabung erleichtern soll.
Zunächst eine grundsätzliche Frage: Sind Nomen und Substantiv völlig äquivalente Bezeichnungen (für Hauptwort), oder gibt es da einen feinsinnigen Unterschied (und wenn der auch nur in der Verwendung liegt)? Zum Beispiel gibt es ja so etwas wie eine Nominalphrase enthält diese, mal ganz naiv gefragt, ein Substantiv?
Der theoretische Hintergrund der Nomen-Verb-Verbindungen ist die Inkorporation (ganz allgemein verstanden) und die der jeweiligen Art der Inkorporation zugrundeliegende Struktur, wie sie etwa für das noun stripping auf S. 14 des Aufsatzes in einem Diagramm dargestellt ist. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist eine Verbform mit Inkorporation eines Nomens, egal zu welchem Grade inkorporiert (abstrakte Inkorporation, noun stripping oder vollständige/echte Inkorporation [= Inkorporation im engen Sinn]), abgesehen von Ableitungen von Nominalkomposita wie Handhabung: handhaben, Schlußfolgerung: schlußfolgern immer eine abgeleitete Struktur und setzt damit die Existenz der Grundstruktur voraus.
Abgesehen davon, daß Prof. Gallman ganz klar gesagt hat, daß die jetzige Festlegung, Leid tun zu schreiben, falsch ist (weil es auch ich bin es leid und es ist mir leid gibt) und es daher in die andere Kategorie einzuordnen ist (was der Grund dafür ist, daß mit dem Schema der Reform nur leidtun kompatibel ist), frage ich mich, welche syntaktische Grundstruktur mit einem Nomen denn leid tun zugrundeliegen soll. Muß man nicht viel eher davon ausgehen, daß es sich hier um eine Art Phraseologismus handelt, der aber kein Nomen beinhaltet?
Auf meinen Einwand, man könne es testen, indem man mit sehr erweitert, erwiderte Prof. Gallman, daß das nicht eindeutig sei, weil das auch bei Präpositionalphrasen zu einem regulären Ausdruck führen würde, so daß man es nicht unterscheiden könne (er war sehr in Eile). Nur wenn die Erweiterung mit sehr nicht zulässig ist, könne man mit Sicherheit schließen, daß es sich nicht um eine Adjektiv oder Adverb gehandelt habe. Er behauptete sogar, daß auch Nominalphrasen mit sehr erweitert werden könnten und bemühte sie hatte sehr Hunger als Beispiel, wenn auch nur in der Umstellung Hunger hatte sie sehr. Das halte ich aber für falsches Deutsch, und da blieb dann nur der Verweis auf die Suche in einem Korpus.
Meines Erachtens liegt der eigentliche Fehler bei leid tun darin, daß dies überhaupt als N-V-Verbindung aufgefaßt wird. Es gibt zwar Fälle wie heimfahren, standhalten, teilnehmen etc., bei denen nur noch die Herkunft von einem Substantiv erkennbar ist, der betreffende Wortteil aber (in keiner Konjugationsform) keine substantivische Funktion mehr hat und die aber dennoch zu den N-V-Verbindungen gerechnet werden können, weil man davon ausgehen kann, daß sie sich aus einer ursprünglich ein Nomen enthaltenden Verbindung gebildet haben. (Problematisch kommt mir dabei allerdings wettmachen vor.) Aber nur weil es bei diesen Fällen verblaßte Substantive sind, bedeutet ja noch nicht, daß es sich immer um eine N-V-Verbindung handelt, nur wenn es zu dem unklaren/verblaßten Wortteil ein gleichlautendes Substantiv gibt.
Eine solche Einordnung kommt bei leid tun m. E. zustande, weil man andere Kategorien nicht in Betracht zieht bzw. nicht zulassen will. Als Vergleich wird entsprechend bei Not tun, Pleite gehen, Recht/Unrecht haben nur danach geprüft, ob es ein entsprechendes Adjektiv gibt, und wenn nicht (*der pleite Betrieb), muß eben groß geschrieben werden. Aber selbst da gibt es Inkonsistenzen: Trotz der bakrotte Betrieb/der Betrieb ist bankrott verlangt die Neuregelung der Betrieb geht Bankrott wegen der Betrieb geht Pleite, und letzteres begründet sich aus dem *pleiten Betrieb. (Vom Klassiker des *Spinnefeindes ganz zu schweigen; stehen doch jetzt Feind, Todfeind, spinnefeind in einer Reihe.)
Langer Rede kurzer Sinn: Wie kann man unumstößlich zeigen, daß leid tun (u. a.) nicht in die Kategorie der Nomen-Verb-Verbindungen gehört? Was kann ich Prof. Gallmann am nächsten Mittwoch erwidern?
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Jan-Martin Wagner
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