Härtling, Peter (2003): Leben lernen. Erinnerungen. Köln: Kiepenheuer & Witsch
Obwohl Peter Härtling zu den Erstunterzeichnern der Frankfurter Erklärung gegen die Rechtschreibreform gehört, hat der Verlag seine Erinnerungen in die Reformorthographie umgesetzt. Das ist dem Text nicht gut bekommen, nicht nur wegen der Fehler bei der Anwendung der neuen Regeln, sondern weil gerade bei korrekter Anwendung entweder grammatisch falsche oder in anderer Weise störende Schreibungen unvermeidlich sind. Schon beim Klappentext fängt es an: zu Eigen gemacht, wie Recht er damit hatte das erste ist künstlich archaisierend, das zweite grammatisch falsch.
Ich gehe den Text einmal durch, beschränke mich aber auch ausgewählte Fälle.
Es heißt durchweg altertümelnd des Öfteren, im Allgemeinen, im Voraus, im Übrigen usw., aber zwischendurch auch im übrigen (324). Über Gräuel und einbläuen will ich nichts sagen, damit bezeugt man einfach seine Ergebenheit gegenüber den Kultusministern. Dagegen streift platzieren (232) schon die Grenze zur Torheit.
Der Bursche hat ja Recht (50; 310) grammatisch falsch.
Was die zwei Händelange schwarze Bestie (29) soll, verstehe ich nicht. Schon oft ist gesagt worden, daß das uralte Wort Handvoll nicht einfach aus dem deutschen Wortschatz gestrichen werden kann:
mit einer Hand voll Kindern (65)
schaute einer Hand voll Menschen ins Gesicht (75)
eine Hand voll Gedichte (133)
Ähnliches ließe sich zur Auseinanderreißung des von den Reformern nicht verstandenen Wortes Zeitlang sagen: eine Zeit lang an Hitler geglaubt (145)
Er wohnte eine Zeit lang im Anthropologischen Institut. (164, vgl. auch 323)
Auf falsche Gedanken könnte man kommen, wenn man liest:
wie es viel versprechend heißt (20)
lauter viel versprechende Debütanten (139)
jedesmal ist aus den neuen Wörterbüchern spurlos getilgt, und auch hier heißt es gehorsam nur noch jedes Mal. Auch sogenannt ist endlich beseitigt, und es heißt folglich in Härtlings Buch stets: der so genannten Kinderlandverschickung (43) usw.
Obwohl die Fehldeutung, wiedersehen usw. müsse jetzt getrennt geschrieben werden, schon 1997 aufgeklärt wurde, glaubt der Verlag immer noch daran:
weil ich ihn wieder gefunden habe (80; vgl. 234)
ein alter Mann, den ich wieder erkannte (290)
Außerdem freute ich mich, Hans Bender wieder zu sehen. (291)
Man hat offenbar nicht bemerkt, daß behende jetzt mit ä geschrieben werden muß, oder war dem Lektor das doch zu toll, vor allem wenn es ums Hüpfen geht?
er hüpfte behend und schnell (69 über einen Beinamputierten; ebenso 225)
kleiner und behender (322)
Die Auseinanderreißung aller Fügungen mit -einander ist besonders dort befremdlich, wo es mangels Partner überhaupt nicht um reziproke Verhältnisse gehen kann: der, mit dem ich mich fragend auseinander setze (108, ähnlich 157, 267 u.ö.). Manchmal vergißt der Lektor es auch: aneinandergeraten (297)
Das neuerdings obligatorische Komma nach Vorgreifer-es ist überhaupt nicht beherrscht:
Ich genoss es auf dieser Hochfläche einem faserigen Sommerhimmel näher zu sein (129)
weil es mir wichtiger war vorzulesen (155)
es gelang ihm Verbindungen herzustellen (140)
Bei die Hitlerschen Bluthunde (130) muß neuerdings ein Apostroph gesetzt werden.
hilfesuchend (270) und wenn's nottat (328) sind ebenfalls nicht korrekt.
Ältere Texte sind in Neuschreibung konvertiert, z.B. das Gedicht S. 299 ein zweifelhaftes Verfahren.
Das Buch kommentiert sich an zwei Stellen selbst: Bücher gestalten ist und bleibt ein Kunst. (349) Und von seinen Kindern sagt Härtling, sie teilten seit den Demonstrationen gegen die Starbahn West eine Erfahrung: die bürgerliche Ohnmacht vor der Staatsgewalt. (367) Besonders wenn ein Verlag sich aus freien Stücken zum Vollstrecker macht.
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Th. Ickler
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