»Die Höhe ihrer Aufgabe« im Selbstverständnis der SZ
oder: Der Aufschub des Untergangs
Für Börne selbst aber war es eine „Pflicht“, gutes Deutsch zu schreiben, „sobald man vor dreißig Millionen Menschen spricht“. Zeitungen und Magazine waren für ihn Medien der Erziehung und der Heranbildung eines nationalen Bewusstseins, die eher schadeten als nützten, wenn sich ihr Stil nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe befand. (Sonja Saal, SZ 24./25./26. Dezember)
Heute verwehrt die SZ selbst ihren sprachlich hervorragendsten Autoren, guten Stil und gutes Deutsch zu schreiben: »Mit Trommelwirbeln und Fahnen schwenkend ...«, soll Willibald Sauerländer geschrieben haben (SZ, 16.12.03), und Joachim Kaiser in der SZ vom 24./25./26. 12.: »wie schrecklich Recht Spengler hatte...« oder »Obwohl man als Theaterkritiker dicke Mappen füllen könnte mit Hilfe suchenden Protest-Briefen ... «
Auch die SZ könnte dicke Mappen füllen mit »Hilfe suchenden« Protestbriefen sowohl gegen ihr kontinuierlich absinkendes intellektuelles und kulturelles Niveau generell als auch gegen das erbärmliche Deutsch, das sie tagtäglich ihren Lesern vorsetzt. An wen mag Joachim Kaiser wohl bei den folgenden Worten gedacht haben?: »Ja, als wohlerwogene „Öffnung“ zum Politisch-Gesellschaftlichen setzen auch manche große überregionale Feuilletons ihren Drang zur thematischen Erweiterung durch. Weniger Streichquartett, mehr Irak; weniger Rezensions-Gekrittel, mehr aktueller Biss.«
Worin der »Biss« bestehen soll, bleibt vorerst im Dunklen. Aber was im Verständnis der SZ »Stil« ist, erfährt man in der Wochenendausgabe vom 27./28. Dezember, denn da gibt es DIE STILSEITE. Eine 43jährige Frau, die wegen ihrer an Blindheit grenzenden Kurzsichtigkeit am Leben verzweifeln wollte, ließ sich in Instanbul erfolgreich kurieren. So etwas ist eine »Reise ins Ich«, also Lifestyle. Es muß damit zu tun haben, daß, wie der Vorspann mitteilt, in wenigen Tagen die Gesundheitsreform »in kraft« tritt. Immerhin, DIE STILSEITE ist so und mit Hilfe einer »Fahnen gespickten« Venus fast gefüllt. Den Rest besorgt den Lesern Alexander von Schönburg mit einem, wie könnte es anders sein: humorigen »Leitfaden für stilvolles Verarmen«, auch »Das Nabokov-Prinzip« genannt – weshalb auch immer. Immerhin scheint Herr von Schönburg gelernt zu haben, daß man schreiben muß »dass er recht hat« (und nicht Recht!), aber noch muß er lernen, daß man »das Selbstverständlichste« auch in neuer Rechtschreibung groß schreibt. Ansonsten hat er vermutlich wieder einfach auf den Startknopf seiner Schreibmaschine gedrückt, die kann bei einem beliebigen zeitgeistigen Stichwort einsetzen und wieder aufhören, wenn die restliche Spalte gefüllt ist. Dazwischen stehen weitere Stichworte aus dem Zeitgeist oder der humanistischen Bildung: Wellness, Graf Lambsdorff, Sklaven, Sauna-Garten, Pompeji, Patrizier, Fuschl, die durch andere Wortarten lose miteinander verbunden werden. Eine Aussage ist offenbar nicht beabsichtigt. Zum Seitenthema STIL fällt ihm die Betrachtung ein, es sei unangenehmer, neben Lothar Matthäus im Bad zu stehen, als neben lächelnden Greisen mit eiternden Wunden.
Recht schön ist die erste Seite dieser Wochenendbeilage, auf der Benjamin Henrichs Betrachtungen über »große letzte Kinoaugenblicke« anstellt, was ihm Gelegenheit zu einem kleinen Zischkonzert gibt: »Eine Schluss-Szene nur aus Kuss-Szenen, von denen viele wiederum selber Schluss-Szenen sind.« Tja, Ihr lieben reformtreuen Redakteure, das habt Ihr davon, wenn Ihr von den wundervollen Kußszenen der Vergangenheit nichts mehr wissen wollt, nun wischt Euch mal die Münder ab.
Und hört auf Euren Chefredakteur Joachim Kaiser, den Ihr offenbar in die Hölle der Minderheit verstoßen habt, »... einer nicht unbedeutenden, qualifizierten und passionierten Minderheit! Falls diese Minderheit, weihnachtlich beflügelt, endlich den Entschluss fasste, sich fordernd zu ihrer Überzeugung zu bekennen, statt immer nur leise herumzujammern, dann wäre schon viel gewonnen. Zumindest ein Aufschub des Untergangs.« (SZ, Weihnachten 2003)
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Walter Lachenmann
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