Kommentar zum vierten Bericht (Fortsetzung)
Zur Groß- und Kleinschreibung
Der Vorwurf der Inkonsequenz der Neuregelung bezieht sich vor allem auf die Kleinschreibung von flektierten Adjektiven in festen Verbindungen aus Präposition und dekliniertem Adjektiv vom Typ vor kurzem, ohne weiteres.
DISKUSSION
Die Kleinschreibung wurde damit begründet, dass diese Verbindungen solchen ohne Flexion nahe kommen. Da substantivierte Adjektive aber auch ohne Artikel und nur mit Präposition auftreten können (z. B. Er steht Neuem misstrauisch gegenüber; sie bevorzugt Süßes; wir verpflegen uns mit Süßem und Salzigem), kann man auch Adjektive in festen Verbindungen aus Präposition und Adjektiv als Substantivierungen auffassen, sofern ihr substantivischer Status nach dem für die Neuregelung maßgebenden morphosyntaktischen Kriterium erkennbar ist, was sich in der Flexion des Adjektivs ausdrückt.
Deshalb kann man diese Adjektive nach § 57(1) auch großschreiben. Es handelt sich um etwa fünfzehn Wendungen dieses Typs, die allerdings in Texten teilweise eine relativ hohe Frequenz aufweisen, z. B. vor kurzem, seit kurzem, binnen kurzem, seit langem, vor langem, seit längerem, vor längerem, von nahem, von neuem, seit neuestem, von weitem, bei weitem, bis auf weiteres, ohne weiteres.
FAZIT
Die Kommission schlägt vor, bei festen Verbindungen aus Präposition und dekliniertem Adjektiv künftig neben der Kleinschreibung auch die Großschreibung des entsprechenden Adjektivs zuzulassen und die Angaben unter § 58(3) folgendermaßen zu ändern:
[§ 58: In folgenden Fällen schreibt man Adjektive, Partizipien und Pronomen klein, obwohl sie formale Merkmale der Substantivierung aufweisen.]
(3) bestimmte feste Verbindungen
(3.1) aus Präposition und nichtdekliniertem Adjektiv ohne vorangehenden Artikel, zum Beispiel:
Ich hörte von fern ein dumpfes Grollen. Die Pilger kamen von nah und fern. Die Ware wird nur gegen bar ausgeliefert. Die Mädchen hielten durch dick und dünn zusammen. Das wird sich über kurz oder lang herausstellen. Damit habe ich mich von klein auf beschäftigt. Das werde ich dir schwarz auf weiß beweisen. Die Stimmung war grau in grau.
(3.2) aus Präposition und dekliniertem Adjektiv ohne vorangehenden Artikel.
In diesen Fällen ist jedoch auch die Großschreibung des Adjektivs zulässig, zum Beispiel:
Aus der Brandruine stieg von neuem/Neuem Rauch auf. Wir konnten das Feuer nur von weitem/Weitem betrachten. Der Fahrplan bleibt bis auf weiteres/Weiteres in Kraft. Unsere Pressesprecherin gibt Ihnen ohne weiteres/Weiteres Auskunft. Der Termin stand seit längerem/Längerem fest. Die Aufgabe wird binnen kurzem/Kurzem erledigt.
Der Vorwurf der Inkonsequenz ging diesmal nicht von den Reformkritikern aus, sondern von dem Schweizer Kommissionsmitglied Peter Gallmann. Er hat sich nun offenbar mit seiner Forderung nach Rückkehr zur weitestgehenden Großschreibung, wie im 19. Jahrhundert eine Zeitlang üblich, durchgesetzt.
Es ist nicht einzusehen, daß die Flektiertheit eines Adjektivs ein Kriterium für seine Substantiviertheit sein soll: bei Weitem. Die Grammatik, die solche Begründungen liefert, muß wohl erst noch geschrieben werden. Andererseits ist das Fehlen von Flexionsendungen kein ausreichendes Argument für nicht-substantivischen Charakter, denn Artikel- und Flexionslosigkeit kommt auch in eindeutig substantivischen Paarformeln bzw. vollständigen Aufzählungen vor: das Märchen von Hase und Igel (statt vom Hasen und Igel). In diesem Sinne kann man Nietzsches Buchtitel Jenseits von Gut und Böse verstehen, wo jedoch nach der Reform Kleinschreibung obligatorisch vorgeschrieben ist, obwohl hier weit eher vom Guten und vom Bösen die Rede ist als in der Floskel bei Weitem von einem Weiten. Im Widerspruch dazu sieht die Reform Großschreibung bei für Jung und Alt, für Groß und Klein (ohne Flexion!) vor. Dieser Widerspruch wird durch die Änderungsvorschläge unerträglich zugespitzt. Es ist im Bericht nicht hinreichend begründet, warum nicht auch durch Dick und Dünn, über Kurz oder Lang usw. geschrieben werden soll.
Schwerer wiegt aber der Einwand, daß die neu verordnete Großschreibung das ist bei Weitem besser usw. vollkommen sinnwidrig ist. Das Weite, das hier erwähnt zu sein scheint, gibt es ja so wenig wie das "Öftere in der neuerdings groß zu schreibenden Wendung des Öfteren. Die Heraushebung eines vermeintlichen Gegenstandes aus der rein adverbial fungierenden Wendung ist textsemantisch widersinnig und überaus rückständig. Niemand hat in den letzten hundert Jahren so geschrieben, die Neuerung entspringt allein dem Konsequenz-Streben eines Grammatikers und nicht der Beobachtung von Schreibbrauch und Fehlerhäufigkeit. (Erst die Rechtschreibreform hat entsprechende Fehlschreibungen hervorgebracht, wie die Kommission sie nun nachträglich legitimieren will.)
Eine überholte Schreibweise des 19. Jahrhunderts ist auch die wiederbelebte Großschreibung der Eine, der Andere, die Meisten usw. Sie soll möglich sein, wenn, wie es seltsamerweise heißt, der Schreibende zum Ausdruck bringen will, dass das Zahladjektiv substantivisch gebraucht ist. Schreibende wollen gewöhnlich einen bestimmten Sinn zum Ausdruck bringen, nicht eine Wortart.
Gallmann hat ja auch schon vorgeschlagen, in elliptischen Konstruktionen die Großschreibung einzuführen: das rote Kleid oder das Grüne. Es liegt auf der Linie seines rigorosen Denkens, daß nach den Meisten auch die substantivisch gebrauchten Pronomina demnächst groß geschrieben werden: ein Buch für Alle und Keinen usw. All dies hat es schon gegeben, und es läßt sich durchaus begründen, aber es führt natürlich weit zurück hinter die moderne leserfreundliche Entwicklung, die alles pronominale Beiwerk durch Kleinschreibung in den Hintergrund drängt.
Der österreichische Beirat will die von Wüster vorgeschlagene Großschreibung (bei Weitem usw.) sogar als einzige Variante (sic!) festlegen lassen. (S. 65) Die Kommission weist dieses Ansinnen jedoch zurück.
Die Kommission erkennt nunmehr an, daß in der Sprachgemeinschaft eine offensichtliche Tendenz besteht, feste Gruppen aus Adjektiv und Substantiv durch Großschreibung als Begriffseinheiten zu kennzeichnen. Dem wollte die Neuregelung entgegenwirken, indem sie die Kleinschreibung erste Hilfe, schwarzes Brett usw. vorschrieb. Die Nachrichtenagenturen und Zeitungen folgten dem nicht, und auch sonst ist der Widerstand gegen diese sprachwidrige Normierung so stark, daß die Kommission seit geraumer Zeit die Klausel nutzt, Fachsprachen seien von der Rechtschreibreform ohnehin nicht betroffen. Der führende Reformer Augst hatte schon vor Jahren geäußert, die Erste Hilfe könne als Fachausdruck auch groß geschrieben werden. Eine ähnliche Ausflucht fand sich im dritten Bericht zur Getrenntschreibung: Während das amtliche Wörterverzeichnis ausdrücklich das Hohe Lied*, der Hohe Priester* § 60(3.3) vorschrieb, behauptete die Kommission nun, auch das Hohelied und der Hohepriester seien korrekt, da fachsprachlich. Aber wozu dann die Änderungen und die Sternchen-Markierung?
Die Anerkennung von Begriffseinheiten (Nominationsstereotypen) war der richtige Weg; leider ist die Kommission nicht so konsequent, dieser Einsicht zu folgen und die am Ende doch wieder aufgeweichte Beschränkung auf Fachsprache aufzugeben. Das Schwarze Brett ist nichts Fachliches, und doch wird es aus Gründen, die der Kommission offenbar bekannt sind, zweckmäßigerweise groß geschrieben.
Als regeltechnisch fehlerhaft muß man den Schlußsatz der vorgeschlagenen Neufassung bezeichnen:
Im nichtfachsprachlichen Zusammenhang ist die Kleinschreibung der Adjektive in solchen Wortgruppen der Normalfall.
Das ist nur als eine vage statistische Aussage über den Schreibbrauch sinnvoll, nicht als Handlungsanweisung. In einem orthographischen Regelwerk haben solche Aussagen nichts zu suchen.
Zeichensetzung
Hier werden keine Änderungen ins Auge gefaßt.
Daß die neue Kommasetzung besonders beim Infinitiv nicht gelungen ist, weiß inzwischen jeder. Aber die Kommission schreibt:
Der Vorschlag, bei Infinitivgruppen mit bestimmten Einleitewörtern immer ein Komma zu setzen, kommt denjenigen Schreibenden entgegen, die klare mechanische Regelungen schätzen, da sie ihnen die Entscheidungen abnehmen.
Hier werden Schreibende diffamiert, die genau das wünschen, was die Neuregelung sich an so vielen anderen Stellen zu bieten rühmt: klare Regeln, die sozusagen idiotensicher auch den Wenigschreiber zu korrektem Schreiben befähigen. Eine solche Regel ist zum Beispiel jene, die obligatorisch Getrenntschreibung bei Wörtern auf -ig, -isch und -lich vorschreibt, ohne Rücksicht auf syntaktische Unterschiede, die als allzu feingesponnen dargestellt werden.
Kennzeichnend für die Neuregelung ist, dass sie die kommunikative Funktion der Satzzeichen betont: Satzzeichen dienen dazu, einen geschriebenen Text übersichtlich zu gestalten und ihn dadurch für den Lesenden überschaubar zu machen, heißt es in den Vorbemerkungen zum Abschnitt E (Zeichensetzung) des amtlichen Regelwerks. Die Schreibenden können mit den Satzzeichen besondere Aussageabsichten oder Einstellungen zum Ausdruck bringen oder stilistische Wirkungen anstreben. Mit dieser Kennzeichnung der Funktion sind Spielräume des Gebrauchs der Zeichen eröffnet, weil übersichtliche Gestaltung, Aussageabsichten, stilistische Wirkung per se nicht systematisch zu regeln sind.
Während nach übereinstimmender Ansicht der Orthographieforschung die Zeichensetzung im Laufe der Jahrhunderte weitgehend durchgrammatikalisiert worden ist, restituiert die Neuregelung eine stilistische bzw. rhetorische Zeichensetzung, besonders beim Komma. Das steht in eigenartigem Gegensatz zur sonstigen Bevorzugung grammatischer Kriterien. Die Schweizer Kommissionsmitglieder Gallmann und Sitta hatten deshalb schon in ihrem Handbuch Rechtschreiben (Zürich 1996) vorgeschlagen, weitestgehend zur bisherigen Kommasetzung zurückzugehen, konnten sich aber offenbar nicht durchsetzen. In der Praxis erleben wir nun, daß Kommata unter genau gleichen Bedingungen mal gesetzt und mal weggelassen werden (übrigens auch im vorliegenden Bericht, wo sogar ganz typische Kommafehler neuer Art unterlaufen, vgl. S. 25, S. 51 und S. 55; der dritte Bericht war noch fehlerhafter). Mit der Freiheit der Kommasetzung soll der professionell Schreibende Unterscheidungen ausdrücken können; es wird aber nicht gesagt, welche Unterscheidungen das sein könnten, da es zu diesem Bereich keine näheren Angaben gibt. Die Stilistik, die nun den leitenden Gesichtspunkt abgeben soll, wird nämlich weder im Regelwerk noch an anderer Stelle ausgeführt. Die Andeutung, man könne durch Kommas notwendige von weglaßbaren Infinitiven unterscheiden (S. 40), hat keine Grundlage im amtlichen Text und entspricht auch nicht den Gepflogenheiten der deutschen Sprache. Daher kann der Leser eines so interpungierten Satzes auch nicht ahnen, was der Schreibende damit zum Ausdruck bringen wollte. Der Schweizer Beirat weist diese Zumutungen denn auch zurück.
Worttrennung am Zeilenende
Bei der Silbentrennung werden keine Änderungen vorgeschlagen.
Um so überraschender wirkt es, daß die Kommission hier eine umfangreiche, mit Fachausdrücken gespickte Abhandlung über Morphem- und Silbengrenzen einschaltet, die offenbar nur der Auseinandersetzung des Reformers Gallmann mit anderen Theorien dient, ohne praktische Folgen für die Neuregelung. Eine Kommentierung ist daher eigentlich überflüssig. Nur einige Hinweise seien gestattet.
Die Kommission führt aus:
Die Worttrennung am Zeilenende ist sowohl in ihrem Regelaufbau als auch in einzelnen Bestimmungen kritisiert worden. Die erste Umsetzung in den Wörterbüchern 1996 war teilweise unterschiedlich, sodass Irritationen entstanden. Unter Hinzuziehung der Kommission haben sich die marktführenden Wörterbücher auf eine einheitliche Handhabung der Regeln geeinigt und eine Einengung in Bezug auf die Schwankungsfälle morphologischer Trennungen bei Fremdwörtern vorgenommen. In den Schulen wird die Neuregelung als Erleichterung angesehen.
In der Tat hatte sich, wie ein Duden-Redakteur einmal schrieb, die eigentlich eher nebensächliche Silbentrennung zu einem Hauptproblem für die Wörterbuchredaktionen ausgewachsen. Die Kommission hat sich daraufhin zu intensiven Beratungsrunden mit den Redaktionen der marktführenden Wörterbücher getroffen und mit ihnen eine nichtveröffentlichte, 60seitige Liste von zulässigen Trennungen vereinbart (vgl. Sprachwissenschaft 2/2000, S. 150). An diesem Vorgehen ist zu beanstanden, daß nur solche Wörterbuchverlage beteiligt waren, die mit der Kommission bzw. dem Beirat für deutsche Rechtschreibung auch wirtschaftlich verbunden sind. Andere Wörterbuchverlage müssen warten, bis die exklusiv beratenen Marktführer (Duden und Bertelsmann sowie das ÖWB) ihre Produkte auf den Markt gebracht haben. Auch der Käufer und Benutzer kann die Zuverlässigkeit der Wörterbücher nicht überprüfen, solange die Liste nicht veröffentlicht ist.
Kritik wurde an der Regelhierarchisierung geübt. Sie zielt darauf ab, in einem ersten Abschnitt die Trennung von Komposita und Präfigierungen zu behandeln und erst in einem zweiten Abschnitt die innermorphematische Trennung.
DISKUSSION
Es gibt immer verschiedene Darstellungsmöglichkeiten. Natürlich kann man sich auch für die linguistische Reihenfolge Trennung an Morphemfugen Trennung an Silbenfugen entscheiden. Prototypisch für die Worttrennung ist jedoch nach dem Alltagsverständnis die Trennung nach Silben. Dies zeigt sich auch daran, dass sowohl die im Vorfeld der II. Orthographischen Konferenz von 1901 auf Bundesstaatenebene erschienenen Regelwerke als auch die verschiedenen Dudenauflagen zunächst die Trennung nach Silben abhandeln, dann erst die morphologische. Insbesondere sprechen namentlich zwei Gründe für die im Regelwerk gewählte Anordnung:
- Trotz morphologischer Segmentierbarkeit fallen bei einer (begrenzten) Anzahl von Komposita und Präfigierungen Morphem- und Silbenfuge nicht zusammen, vgl. hin-auf vs. hi¦nauf, be-ob-achten vs. beo¦bachten (¦ markiert die Silbenfuge).
- Bei einer Hintanstellung der Trennung an Morphemfugen entfällt die Notwendigkeit eines Vorgriffs auf später folgende Regeln, vgl. § 111 E1, E2 und § 112.
FAZIT
Da das Regelwerk in seiner Darstellung alle notwendigen Aussagen enthält und diese auch hinreichend sind, besteht kein Änderungsbedarf.
Hier wird offensichtlich unlauter argumentiert. Kritiker haben in der Tat gefordert, zuerst die Trennung der Zusammensetzungen zu behandeln. Es ist jedoch nicht zulässig, dafür unterderhand den Begriff Trennung nach Morphemfugen einzusetzen. Auch die Kritiker bleiben grundsätzlich bei der Silbentrennung und wollen keine Morphemtrennung einführen. Trennstellen bei Zusammensetzung sind nur ein Teil davon.
Und gerade die von der Kommission problematisierten Beispiele sind umstritten und werden widersprüchlich behandelt. Einerseits wird dem Schreibenden unterstellt, daß er Komposita wie hinauf, weil er sie gebunden spricht, auch nicht mehr als Komposita erkenne und daher silbisch trenne (hi-nauf), andererseits wird jedoch auf durchsichtiger Morphologie bestanden. Macht man die Trennung von der gebundenen Aussprache abhängig, so müßte auch für die vielen Sprecher, die Verein usw. gebunden sprechen, die entsprechende Trennung zulassen. Das ist jedoch ausdrücklich nur für vol-lenden vorgesehen.
Die Kommission geht auf die vielfach beanstandete Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben (A-bend, Sitze-cke) ein. Im Sinne der Regeleinsparung will sie aber daran nichts ändern. Dies zeigt, daß ihr die rein formale Eigenschaft der Ausnahmslosigkeit mehr wert ist als der Sinn des Geschriebenen. Sie führt aus:
Außerdem ergibt sich eine irreführende Trennung meist nur bei der isolierten, metakommunikativen Betrachtung eines Wortes, nicht jedoch beim normalen sinnentnehmenden Lesen eines fortlaufenden Textes.
Das Gegenteil ist richtig. Denn gerade bei der metakommunikativen Betrachtung stehen die getrennten Teile eng beeinander: Seeu-fer, so daß die Lesestörung bei weitem nicht so ins Gewicht fällt wie bei tatsächlichem Zeilenbruch.
Den Lernenden dürfte mit der neuen Regel kein Gefallen getan sein, aber immerhin trennt auch die KMK in ihrer Beschlußvorlage zur Rechtschreibreform vom 14.1.2004 zweimal Ü-bergang.
Bei der Ansetzung einer Trennstelle hu-sten, tä-tlich, die aber dann doch folgenlos bleiben soll, wird nur der Endrand des ersten Teils, nicht aber der Anfangsrand des zweiten berücksichtigt. Im Standarddeutschen beginnen Wörter nicht mit st- (sondern scht-) oder gar tl- usw.
Zur Fremdworttrennung wird ausgeführt:
"§ 110 findet seine Begründung in der schwankenden Aussprache eines Teils der Fremdwörter: Der dem Cluster vorangehende Vokal kann als Langvokal oder als Kurzvokal realisiert werden. Während bei Langvokal die präferierte Silbengrenze vor dem Cluster liegt (vgl. die Diskussion oben), ist sie bei Kurzvokal zwischen den beiden Segmenten anzusetzen, zum Beispiel:
bei Langvokal: bei Kurzvokal:
Zy¦klus Zyk¦lus
E¦kloge Ek¦loge
Ma¦gnet Mag¦net
A¦frika Af¦rika
Solche phonetischen Begründungen sind aber in der amtlichen Neuregelung nicht zu finden, sie scheinen von Gallmann erst neuerdings hinzukonstruiert zu sein. Die Neuregelung bietet den entsprechenden Paragraphen vielmehr einfach als Zugeständnis an die Tradition (letztlich die Muta-cum-liquida-Regel der antiken Sprachen).
Zusammenfassung
Abschließend läßt sich der vierte Bericht folgendermaßen charakterisieren: Die Fehlerhaftigkeit der Neuregelung wird zwar eingestanden, doch sollen wohl mit Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Verlage keine falschen Schreibweisen zurückgenommen werden. Vielmehr werden weitere Varianten eingeführt. Die zunehmende Beliebigkeit der Schreibweise wird als Flexibilisierung und Gewinn an Freiheit empfohlen und von den Beiräten begrüßt, obwohl sie der Sache nach dasselbe ist wie die Zonen der Unsicherheit, die zu Beginn der Reform und im amtlichen Regeltext als Grundübel der bisherigen Rechtschreibung angegriffen worden waren. Noch 2001 konnte der Beirat die Vermehrung der Varianten mit dem Hinweis abwehren: Variantenschreibungen setzen den Schreiber unter Entscheidungszwang und tragen in Ermangelung einer konsistenten Variantenführung häufig zur Verunsicherung bei.
Wo eine Flexibilisierung wirklich am Platze wäre, zum Beispiel bei der Zusammenschreibung mit Verbzusätzen, beharrt die Kommission auf geschlossenen Listen innerhalb des Regelwerks. Das führt dazu, daß Änderungen wie die nun vorgeschlagenen richtige Schreibweisen falsch und falsche richtig werden lassen. Außerdem hat die Partikelliste unter § 34, die im Laufe der Jahrzehnte immer wieder geändert worden war, inzwischen einen unzumutbaren Umfang erreicht und kann dennoch nur durch willkürliche Ausschließung weiterer Verbzusätze einigermaßen begrenzt werden.
Zu bedauern ist, daß die Kommission keine vollständige Neufassung derjenigen Paragraphen vorlegt, die besonders stark verändert werden sollen, also etwa § 36. Aus den zahlreichen Hinweisen auf Tilgungen, Ergänzungen und Verschiebungen läßt sich nur mühsam ein Gesamtbild konstruieren.
In der Öffentlichkeit ist als neue Regel hauptsächlich die ss-Schreibung angekommen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht sind es jedoch die Getrennt- und Zusammenschreibung sowie die Groß- und Kleinschreibung, die am meisten Aufmerksamkeit und Kritik verdienen. Statt die Neuregelung in diesen beiden Bereichen entschlossen über Bord zu werfen, versucht sich die Kommission seit Beginn an Reparaturen. Diese haben inzwischen einen solchen Grad von Unübersichtlichkeit erreicht, daß es kaum noch möglich ist, die Regeln auf innere Konsistenz zu überprüfen, ganz zu schweigen von ihrer sachlichen Angemessenheit.
Auffällig bleibt der immer wieder geäußerte Wunsch der Kommission, die Wörterbuchverlage und Softwarehersteller stärker an die Kandare zu nehmen und bis in die letzten Einzelheiten von ständiger Beratung abhängig zu machen.
Zum Anhang
Die Stellungnahme der Schweizer EDK ist oben bereits weitgehend berücksichtigt.
An der knappen Stellungnahme des deutschen Beirates kaum anderthalb Seiten fällt auf, daß es dem Beirat weniger auf die sachliche Angemessenheit der Reform als auf ihre Durchsetzung anzukommen scheint:
Der Beirat empfiehlt die Änderungen in einem Rahmen zu halten, bei dem die Auswirkungen der Regelmodifizierungen nicht zu einer erneuten öffentlichen Infragestellung der Neuregelung führen können. (S. 63)
In diesem Sinne übernimmt der Beirat auch die verhüllende, die Öffentlichkeit täuschende Sprachregelung, von Präzisierungen zu sprechen, wo Änderungen gemeint sind:
Der Beirat fordert die deutschen Vertreter der Zwischenstaatlichen Kommission auf, sich bei den staatlichen Stellen intensiv dafür zu verwenden, dass die Kultusministerkonferenz frühzeitig im Frühjahr 2004 das Paket der Präzisierungen beschließt, damit genügend Zeit für die Umsetzung in Schulbüchern, Wörterbüchern, Zeitungen, Softwareprogrammen und anderen Publikationen bleibt. (S. 64)
Kann man Präzisierungen umsetzen? Nur wenn es in Wirklichkeit Änderungen sind. Und warum
sollten Präzisierungen so gravierenden Folgen haben, daß die Verlage usw. rechtzeitig darauf vorbereitet werden müssen?
Man muß dazu noch bedenken, daß die neuen Wörterbücher ja bereits in zahlreichen gemeinsamen Beratungsrunden mit der Zwischenstaatlichen Kommission bis ins kleinste Detail abgestimmt worden sind, so daß die Kommission feststellen konnte:
Auf Betreiben und unter Mithilfe der Zwischenstaatlichen Kommission einigten sich die großen Wörterbuchverlage seither auf eine einheitliche Auslegung der amtlichen Regeln. Sie haben dies in den jeweils neuesten Auflagen ihrer Rechtschreibwörterbücher umgesetzt: Bertelsmann im März 1999, Duden im August 2000. Beide Nachschlagewerke sind damit zuverlässige Ratgeber in orthografischen Fragen. (Pressemitteilung der Kommission vom 17.8.2000)
Die Wörterbücher enthalten also bereits alles, was den Ansichten und Einsichten der Kommission entspricht. Was sollen dann weitere Präzisierungen?
Worum es wirklich geht, verrät der Beirat nochmals mit der Forderung:
Der Wortlaut des § 58 E4 sollte aus der mehrheitlichen Sicht des Beirats keine Präzisierung erfahren.
Wie kann man etwas gegen Präzisierungen haben (die zudem von den Urhebern selbst für notwendig gehalten werden) außer wenn es in Wirklichkeit geschäftsschädigende Änderungen sind?
Um nicht nur den Eindruck bedingungsloser Jasagerei zu erwecken, schaltet der deutsche Beirat eine scheinbar kritische Bemerkung ein: Die erweiterte Partikelliste solle auf ihre Kompatibilität mit § 34 überprüft werden. Die Kommission hat diese Überprüfung unternommen (die der Beirat natürlich innerhalb von zwei Minuten selbst hätte erledigen können) und kommt zu dem voraussehbaren Ergebnis, daß sich keine Inkompatibilität feststellen lasse.
Um die Stellungnahme des Beirats besser zu verstehen, muß man sich seine Zusammensetzung näher ansehen. Neben einigen eher blassen Vertretern von nur am Rande betroffenen Institutionen (zum Beispiel Deutsches Institut für Normung) sitzen im Beirat die großen Wörterbuchverlage und der einflußreiche Verband der Schulbuchverlage (jetzt VDS Bildungsmedien), der nach eigenen Angaben 400.000 Mark ausgegeben hat, um das schleswig-holsteinische Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform zu hintertreiben vergeblich zunächst, bis ihm die Landtagsfraktionen doch noch den Gefallen taten, die Volksgesetzgebung zu annullieren. Es gibt ferner ein Mitglied, das offiziell die Lehrerorganisationen im Deutschen Gewerkschaftsbund vertritt, in Wirklichkeit aber eine Rechtschreibberatung für gehobene Ansprüche betreibt (siehe http://www.rechtschreibkurse.de).
Allerdings scheinen nicht alle Mitglieder den Beirat besonders ernst zu nehmen. Manche erscheinen gar nicht erst zu den Beratungen; bei der letzten Sitzung fehlten u. a. der Deutsche Journalistenverband und der Verband der Zeitungsverleger. Der deutsche Beirat hat keinen Vorsitzenden und unterzeichnet daher als einziger Beirat seine Stellungnahmen nicht namentlich.
Für die Kultusminister spielt der Beirat dennoch eine wichtige Rolle. Er fungiert als Surrogat jener sprachinteressierten Öffentlichkeit, die zwar versprochen, aber nicht geschaffen worden war: Besser, als einen Privatverlag stillschweigend Einzelfallentscheidungen treffen zu lassen, ist es allemal, wenn von jetzt an eine der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldende Expertengruppe systematische Lösungen sucht. (...) Anders als Verlagsredaktionen, die ihre orthographischen Entscheidungen nicht mitzuteilen und zu begründen brauchen, muss die Kommission ihre Empfehlungen und Vorschläge öffentlich vorlegen und vertreten. Sie ist damit für die engere wissenschaftliche und die weitere sprachinteressierte Öffentlichkeit kritisierbar. (Zwischenstaatliche Kommission bzw. IDS 1997)
Die Kultusminister behaupten, in diesem Beirat seien die professionell Schreibenden vertreten, also vor allem die Schriftsteller und die Journalisten. Jeder weiß, daß alle namhaften Schriftsteller und die meisten Journalisten die Rechtschreibreform ablehnen, aber durch ihre Zwangsvertretung im Beirat, vor der sie gar nichts wissen, haben sie ihr zugestimmt. Auch die Eltern deutscher Schüler haben der Reform und allen Änderungsvorschlägen zugestimmt durch die Vertreterin des Bundeselternrates. Kritiker der ganzen Rechtschreibreform und damit die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung sind im Beirat nicht vertreten.
Der österreichische Beirat wird praktischerweise von Dr. Fritz Rosenberger geleitet, demselben Regierungsvertreter, der auch für die Durchsetzung der Reform in Österreich verantwortlich ist.
Im Anhang des Berichts findet sich ein Abdruck der Buchstabenstrecke D aus dem Österreichischen Wörterbuch (ÖWB) mit den z. T. handschriftlich eingetragenen Änderungen, die sich laut 4. Bericht ergeben würden. (In der Internetversion des Berichts, die am 6.2.2004 von der Rechtschreibkommission ins Netz gestellt wurde, fehlt dieser Teil; eine originalgetreue Abbildung findet man unter http://www.rechtschreibreform.de/K4/OWB.) Obwohl eine Auszählung hier schwer ist, weil einerseits ganze Wortnester, andererseits nur einzelne Verweise geändert werden, ergeben sich weit über 100 Änderungen, was hochgerechnet rund 3.000 Änderungen im ganzen ÖWB bedeutet. Im Rechtschreibduden mit seinem größeren Stichwortbestand wären es etwa 4.000 Änderungen, im Großen Wörterbuch von Duden nochmals das Doppelte. Jedenfalls die Größenordnung dieser Schätzung dürfte stimmen. Daraus geht hervor, daß nach Billigung des vierten Berichts alle Wörterbücher usw. sofort neu bearbeitet werden müssen, wie es ja auch vom deutschen Beirat angedeutet wird.
Der Bericht soll nach dem Wunsch der Kultusminister der letzte seiner Art sein. In Zukunft soll die Kommission Regeländerungen nicht mehr nur vorschlagen, sondern in eigener Verantwortung einführen und durchsetzen und der KMK nur noch im Fünfjahresrhythmus darüber berichten. Nur Änderungen von grundsätzlicher Bedeutung sollen noch der Genehmigung bedürfen. Zweimal wird das Beispiel der gemäßigten Kleinschreibung genannt, aber es ist klar, daß es das einzige in Frage kommende ist: Die Kleinschreibung der Substantive wird von allen Kommissionsmitgliedern als Fernziel festgehalten.
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Th. Ickler
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