Chaos durch Rechtschreibreform
Vor einigen Tagen bin ich auf diese interessante Internet-Seite gestoßen und lese mich seitdem mit Interesse durch diverse Beiträge. Dieses Forum wirkt auf mich ein wenig wie ein geschlossener Diskutierclub, dennoch will ich als Außenstehende einmal einen Einwurf versuchen.
Ich bin eine entschiedene Gegnerin der Rechtschreibreform in der vorliegenden Form, bin aber nicht unbedingt gegen jegliche Änderung an der klassischen Rechtschreibung.
Schlimm ist aber das Chaos, das durch die völlig überstürzte, ohne ausreichende Diskussion und anscheinend auch ohne ausreichende Fachkenntnis eingeführte „Reform“ angerichtet wurde.
Ich möchte hierzu meine persönliche Erfahrung darstellen. Vor Einführung der „Reform“ beherrschte ich die deutsche Rechtschreibung einigermaßen vollständig, vielleicht zu 98% [um irgendeine Zahl zu nennen]. In Zweifelsfällen konnte ich mich meist auf mein Sprachgefühl verlassen. Da ich in der Regel keine Texte für die Öffentlichkeit verfasse, war ein Griff zum Nachschlagewerk selten bis nie erforderlich, eher habe ich mal einen Fehler inkaufgenommen [wie schreibt man das? Gibt es bzw. gab es das Verb „inkaufnehmen“? Oder heißt es „in Kauf nehmen“? Oder vielleicht „inkauf nehmen“? Ich weiß es nicht auf Anhieb].
Alle Rechtschreib- und Grammatikregeln, die ich in meiner bald 20 Jahre zurückliegenden Schulzeit sicher einmal gelernt habe, sind in Vergessenheit entschwunden. Mein Sprachgefühl ist seitdem eben eher ein „Gefühl“ als eine bewußte Verstandesleistung. Aufgefrischt und erneuert wird es durch den täglichen (vorwiegend passiven) Umgang mit Schrift, das sind in meinem Fall in hohem Maße Zeitungen, Zeitschriften und Texte im internet (Bücher nur in geringerem Umfang).
In den genannten Medien wird nun seit einigen Jahren überwiegend „neu“ geschrieben, in allerhand Abweichungen.
Der Effekt ist eine Verunsicherung über die „richtige“ Schreibung, die mein Sprachgefühl nachhaltig verstört. Ich vermute, daß ich heute nur noch zu vielleicht 95% (und ständig abnehmend) die alte Schreibweise beherrsche, da ich mich eben nicht mehr täglich in ihr schulen kann. Die kritischen Fälle, die ich früher schon nicht ganz sicher beherrschte (insbesondere Groß-/Kleinschreibung und Getrennt-/Zusammenschreibung), beherrsche ich jetzt noch weniger sicher (sowohl in der alten als auch in der neuen Schreibung, die ich bis jetzt allerdings auch noch nicht ernsthaft zu lernen versucht habe).
Und so wird es doch sicher vielen (erwachsenen) Menschen gehen. Das Niveau der Schriftbeherrschung sinkt, egal von welchem Stand es einmal ausging, durch die Differenz zwischen dem einmal gelernten [Gelernten?] und dem heute gelesenen sowie durch die völlig unterschiedliche Schreibweise in den heute erhältlichen Medien.
Diese Folge vermutlich jeglicher Reform wäre hinzunehmen, wenn wenigstens zukünftige Generationen irgendwelche Vorteile aus dieser Reform ziehen könnten – nach dem, was ich dazu bisher gelesen habe, ist dies aber nicht der Fall.
Da die Reform sich aufgrund ihrer offensichtlichen Mängel (die Argumente, die ich zu diesen Mängeln u.a. auf dieser Seite gelesen habe, finde ich absolut überzeugend) nicht einheitlich durchgesetzt hat (und hoffentlich auch nicht durchsetzen wird), wird die Verunsicherung über die „richtige“ Rechtschreibung sich auch in Zukunft und bei neuen Generationen fortsetzen – mindestens so lange, bis eine einheitliche Schreibweise sich wieder durchgesetzt hat.
Dem Chaos gehört ein Ende gesetzt. Am besten mit einer sofortigen Abschaffung der Rechtschreibreform, mindestens aber mit einer Korrektur derselben, die von ihr fast nichts übrig läßt.
Durch die permanente ungewollte Schulung in „Neuschrieb“ überlese ich übrigens unterdessen meistens „ss“ anstelle von „ß“ außer in besonders krassen Fällen wie „Missstand“. Daran könnte ich mich anscheinend gewöhnen. Nicht gewöhnen kann ich mich aber an sinnentstellende Auseinanderschreibungen. Auch nach Jahren der Übung stolpere ich immer wieder über Sätze, die Begriffe wie „tief greifend“ oder „weiter gehend“ enthalten. Das Auge (und das Gehirn) stockt häufig nach dem ersten Wort, vermutet hier eine Zäsur. Erst beim zweiten Lesen erschließt sich dann der Sinn des Satzes. Häufig sind die „Neuschreibungen“ auch ungewollt komisch. Bei „hier zu Lande“ muß ich immer innerlich kichern und mich fragen „hier zu Lande? Nicht zu Wasser?“
– geändert durch Nora Nordlicht am 19.02.2004, 15.58 –
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