Das Essay „Die Rechtschreibreform und einige ihrer Argumente“ ist in der Tat interessant.
Es ist aber ebenso mit Vorsicht zu genießen, da die Argumentation in manchen Fällen nur scheinbar oder nur teilweise logisch ist. Dies will ich anhand einiger Beispiele aufzeigen.
Zitat: In den Äußerungen der Reformer gibt es die immer wiederkehrende Gestalt des konservativen, nicht zum Umlernen bereiten Reformgegners, zusammen mit dem Hinweis darauf, daß sich die Sprache schon immer entwickelt, also verändert hat. Letzteres ist für sich genommen natürlich richtig. Unabhängig davon aber, wie ein Beharren auf alten Sprachregeln wirklich zu bewerten ist und inwiefern eine Kritik an geistiger Trägheit gerechtfertigt sein könnte, fällt an diesem Argument auf, daß sich damit jede Reform, selbst eine bewußt untauglich gestaltete, rechtfertigen ließe.
Es ist wohl wahr, dass dieses Argument bei jeder Rechtschreibreform eingesetzt werden könnte; rechtfertigen kann und will man die Reform als solche damit aber nicht. – Und nur weil ein Argument in einem anderen Fall absurd wäre, kann man damit die Argumentation für den Spezialfall nicht ad absurdum führen!
Zitat: Auf allen anderen Gebieten vermittelt die Schule Grundwissen und -fertigkeiten, nie aber den Gesamtumfang der einzelnen Fächer. Wieso das plötzlich für die Beherrschung der Verschriftung der Sprache der Fall sein soll, ist nicht nachvollziehbar. Die Lernbarkeit in zehn Schuljahren zu postulieren, um die eigenen Ziele zu rechtfertigen, sich noch positiv als Sozialreformer zu positionieren und darüber hinaus auch noch die inhaltliche Kritik pauschal abzuweisen, ist schlechterdings unredlich.
Es ist durchaus möglich, die Verschriftung der deutschen Sprache in zehn Schuljahren zu lehren. Abgesehen von kleineren Feinheiten, dürfe es in praxi sogar möglich sein, einem Schüler die komplette Groß- und Klein- sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung in einem oder in zwei Jahren beizubringen, sofern dieser das nötige Interesse mitbringt. Doch statt dies zu tun, vergeudet man zu viel Zeit mit teilweise sinnlosem Stoff. – Während in der Schule die „höhere Mathematik“ gelehrt wird, deren Applikabilität im Alltag sehr gering sein dürfte, ist so mancher Schüler noch nicht einmal in der Lage, eine fehlerfreie Bewerbung zu schreiben. Ist dies nicht eine allgemeine Schieflage in den deutschen Schulsystemen?
Zitat: Aber selbst die vorgeblich durch die Reform erreichten Vereinfachungen sind zum großen Teil nicht vorhanden oder ziehen neue Probleme nach sich. Ein sachliches Problem der Reformschreibung besteht aus Sicht der Mustererkennung in der Wahrnehmung beim Lesen. Hier sei nur eines von vielen Beispielen genannt. So war in dem kleinen Wörtchen „bißchen“ die Auflösung in die einzelnen Einheiten beim Lesen bisher sofort klar. Im neuen „bisschen“ hingegen sind kognitiv die Auflösungen „bis-schen“ und „biss-chen“ möglich, was hier noch durch die Buchstabenfolge „sch“ aggraviert wird, die den Leser sehr leicht stolpern läßt, da sie als der Trigraph „sch“ gelesen werden kann. Es handelt sich folglich nicht nur um ein ästhetisches Problem. Die reformierte „ss/ß“-Schreibung schafft sehr viele derartige Stolperstellen. Leider haben diese das Lesen stark erschwerenden Aspekte durch die Urheber der Rechtschreibreform keine Würdigung erfahren.
Hierin kann ich nicht wirklich ein Problem erkennen. Es dürfte doch klar sein, dass man bisschen in „biss-chen“ trennt. Der Nichtmuttersprachler erkennt außerdem an dem „ss“, dass das „i“ davor kurz ausgesprochen wird.
Zitat: Daß diese Unterscheidung aber (also, in vereinfachter Merkblattform: „nach langem Vokal oder Diphthong ß, nach kurzem aber ss“) leichter lernbar sein soll als die alte („am Silbenende und vor t ß, ansonsten ss“) erscheint kaum nachvollziehbar.
Kurz nach dieser Passage stieß ich auf das Adjektiv „meßbar“. In diesem Fall hilft mir die Regel, dass am Silbenende vor „t“ ein „ß“ kommt, nicht weiter. Die Regel, dass nach kurzem Vokal ein „ss“ kommt, hilft mir hingegen weiter: Es heißt „messbar“.
Der Nichtmuttersprachler hat in diesem Fall sogar den Vorteil, sofort erkennen zu können, dass „die Maße“ (Plural von „Maß“) mit langem „a“, „die Masse“ hingegen mit kurzem „a“ gesprochen wird.
Zitat: Kann es dann sinnvoll sein, die Transkription von griechischstämmigen Wörtern genau so zu verändern, wie sie weder fürs Französische noch fürs Englische erfolgt? (Von wenigen Zufallstreffern wie „Fantasy“ sei einmal abgesehen.) Eines der Beispiele dafür ist die Ersetzung des „ph“ in Wörtern wie „Orthografie“ (engl. „orthography“). Ähnliches gilt, wenngleich weniger eindeutig, für die Zusammen- und Getrenntschreibung im Vergleich mit der „hyphenation“, der Bindestrichsetzung in englischen Wörtern. Als Beispiel möge der Vergleich von „sogenannt“, reformiert „so genannt“, und dem englischen „so-called“ dienen. Letzteres Beispiel wiegt umso schwerer, als daß mit „sogenannt“ ein Wort aus dem deutschen Wortschatz gestrichen werden soll, das unmittelbare Entsprechungen in vielen europäischen Sprachen hat (Englisch, Französisch, Italienisch, Schwedisch, Niederländisch ...).
Die Ersetzung des „ph“ durch „f“ sagt auch mir nicht zu. Für mich heißt es – wie auch in der neuen Rechtschreibung korrekt – immer noch „Orthographie“, „Biographie“ etc. Interessant ist ja, dass diese Ersetzung beim so genannten „Bildungswortschaft“ nicht zulässig ist; es gibt also keine „Filosofie“ – das wäre ja noch schöner ...
Was jedoch in diesem Essay unterschlagen wird: Die spanische Sprache wird heutzutage von mehr Menschen (und vor allem Muttersprachlern) gesprochen als die französische. Im Spanischen (und auch im Italienischen) gibt es die „ortografia“. Ähnlich wie unser „Telefon“, das nun seit langem nicht mehr mit „ph“ geschrieben wird, haben die Italiener ein „telefono“, während die Spanier ein „teléfono“ haben.
Dass man mittlerweile „so genannt“ (wie „so nennen“) schreibt, befürworte ich. Die „hyphenation“ im Englischen unterstreicht diese Modifikation doch geradezu: Im Englischen liegt, wie im Deutschen, die Betonung auf „so“ (so-called, so genannte ... [im Französischen „soi-disant“]). Durch die Getrenntschreibung geht dieses Wort der deutschen Sprache nicht verloren.
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