Unterricht mit "neuen" Schulbüchern
Gestern abend habe ich mich an der Lektüre eines neu erschienenen Lehrbuches zum Fach Deutsch ergötzt: Grundlagen Deutsch 1. Alles was man braucht. Erschienen im Verlag mehrzu.de.
Das Lehrwerk wendet sich an Schüler ab dem 4. Schuljahr.
Schon das Impressum beeindruckt, denn es verrät uns vom Autor:
„Name XY, Oberstudienrat für Deutsch, verheiratet, zwei Kinder. Ein edler Mensch.“
Da muß man ja neugierig werden.
Schlagen wir deshalb gleich die Seite 11 auf: „Verbindungen aus Substantiv und Verb“
Die Regeln:
1. Verbindungen* aus Substantiv und Verb werden grundsätzlich als Wortgruppe und nicht als Zusammensetzung behandelt. Man schreibt sie also getrennt.
Acht geben, Angst haben, Bankrott gehen, Feuer fangen, Kartoffeln schälen,
Kopf stehen, Leid tun, Not leiden, Pleite gehen (und so weiter)
Anmerkung: * Was sind Verbindungen?
2. Werden Substantiv und Verb getrennt geschrieben*, so ändert sich auch nichts daran, wenn das Verb zu einem Partizip wird.
Ackerbau treibende** Völker, ein Aufsehen erregendes Ereignis, Laub tragende Bäume (und so weiter)
Anmerkungen:
* Diese zweite Regel erweckt aufgrund ihrer Formulierung den Eindruck, als ob die Getrenntschreibung nicht Regel, sondern eher Ausnahme sei. Sie ist deshalb verwirrend und für Schüler unverständlich.
Etwa nach folgendem Muster:
Regel 1: Autos haben grundsätzlich vier Räder.
Regel 2: Hat ein Auto vier Räder, ändert sich auch nichts daran, wenn jemand am Steuer sitzt.
** Was um Himmels Willen sind „treibende“ Völker?
3. Werden Verbindungen aus Substantiv und Verb substantiviert, schreibt man sie zusammen.
Anmerkung: Wieder die Frage, was ein Schüler unter „Verbindungen“ verstehen soll.
Seite 12 erklärt den Schülern die „Verbindung aus Verb und Verb“:
1. Wortgruppen* aus einem Verb im Infinitiv und einem zweiten Verb werden getrennt geschrieben.
bestehen bleiben, bleiben lassen, gehen lassen, kennen lernen (und so weiter)
Anmerkung:
* Wortgruppen sind für mich keine Zusammensetzungen, sondern eben Gruppen, oder liege ich da falsch? Wenn ich Wortgruppen schreibe, dann versteht sich die Getrenntschreibung, dazu bedarf es keiner Regel.
2. Wird die Wortgruppe substantiviert, schreibt man die Bestandteile zusammen und groß.
das Kennenlernen, zum Sitzenbleiben, beim Spazierengehen
Anmerkung:
* Kann man Wortgruppen substantivieren? Kann man dann etwa auch ganze Sätze substantivieren, die in diesem Fall zusammenzuschreiben sind?
(die Sonne scheint schön: Dieschönscheinendesonne)
Erwähnenswert ist auch das Kapitel mit der Überschrift „ß-Schreibung“ auf Seite 8.
1. Der stimmlose s-Laut im Inlaut* nach langem Vokal oder Diphtong und folgendem Vokal wird mit ß geschrieben.
Straße, ließen, stoßen, Buße
Mäßigkeit, Größe, Grüße; reißen, außer
Anmerkung:
* Diese Formulierung stört mich irgendwie. Kann es sein, daß man das so nicht sagt: „im Inlaut“? Muß es nicht heißen „als Inlaut“?
2. Der stimmlose s-Laut im Auslaut nach langem Vokal oder Diphtong wird mit ß geschrieben, wenn eine andere Form des Wortes ein ß hat.*
Ableitungen mit ß:
das Maß – die Maße
der Gruß – die Grüße
der Fleiß – fleißig
der Strauß – die Strauße
Ableitungen mit s**:
das Glas – die Gläser
das Gras – die Gräser
lies – lesen
der Preis – die Preise
Anmerkungen:
* Über dieser Regel habe ich lange gebrütet. Ich verstehe sie noch immer nicht. Soll das wirklich eine Art Regel sein?
** Die Kapitelüberschrift lautet: „ß-Schreibung“. Was haben hier die Beispiele zum „s“ zu suchen?
3. Der stimmlose s-Laut vor t wird mit s geschrieben, wenn das t zum Wortstamm gehört.*
meistens, feist, Kleister
Anmerkung: Was hat das mit der Kapitelüberschrift „ß-Schreibung“ zu tun?
Außerdem: Wie sollen die Schüler den Wortstamm erkennen lernen, wenn sie neuerdings so trennen: meis-tens, Kleis-ter?
Woher soll ein Kind wissen, welchen Wortstamm Pflaster, Schwester, Kasten usw. haben? Und: Wie schreibt man folgende Wörter: Kasper, Wespe, Knospe ... Es gibt kein Kapitel zu stimmlosem s-Laut vor p!
4. Der stimmlose s-Laut vor einem t, das nicht zum Wortstamm gehört, wird je nach Ableitung mit s oder ß geschrieben.
Ableitung mit s: er rast (rasen), er liest (lesen)
Ableitung mit ß: er reißt (reißen), er büßt (büßen)
Das ß (Eszett) ist eine Kombination aus den Buchstaben „s“ und „z“, wie sie in der deutschen Schrift geschrieben wurden. Es gibt das ß in keiner anderen Sprache der Welt. Es ist also ein typisch deutsches Kennzeichen.*
Anmerkung:
* Da denkt man unwillkürlich an Autokennzeichen. Oder besondere Kennzeichen im Personalausweis.
Zuletzt aus dem Vorwort des Verlegers:
„Liebe Kollegin, lieber Kollege, was kann schöner sein, viel schöner als Gut und Geld ...? Diese Kopiervorlagensammlung: Ein Lernerlebnis – für Schüler/innen ...“
(einige Zeilen darunter dann so geschrieben: „Schülerinnen“, männliche Wesen bleiben überhaupt außen vor.)
Listig fügt der Verleger hinzu:
„Zukunftssicher – wenn die Rechtschreibreform zukünftig zuschlagen* sollte: Passen Sie die Arbeitsblätter auf der CD-Rom einfach an.“
* Sie wird, sie wird! (Wenn sie uns nicht vorher alle erschlagen hat.)
Dies steht also unseren Schülern ins Haus durch einen Verleger, der auf PISA herumreitet, als sei es ein lustiges Gesellschaftsspiel.
Wir sollten Schüler – und natürlich auch Schülerinnen – vor Heimsuchungen dieser Art beschützen. Dergestalt erteilter Deutschunterricht ist nicht nur falsch, sondern auch zum Sterben langweilig.
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Karin Pfeiffer-Stolz
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