bis 20040613
Solinger Tageblatt, 5. Juni 2004, Seite 30 (Kultur)Wenn neue Schulbücher schon wieder veraltet sindDer Präsident des Deutschen Lehrerverbandes rät seinen Kollegen: Über Schreibfehler großzügig hinwegsehenVon Anja Clemens
Düsseldorf. Befürworter und Gegner der Rechtschreibreform werden noch lange vortrefflich darüber streiten, ob die Schüler in Deutschland einem nun „Leid tun“ oder „leidtun“ sollen. Denn wenn die neue Rechtschreibung nach dem Willen der Kultusministerkonferenz (KMK) am 1. August 2005 endgültig in Kraft tritt, stehen auch die Schüler vor vollendeten Tatsachen Schreiben sie nach alten Regeln, gilt das als Fehler – und fließt damit unweigerlich in die Benotung ein.
Das wäre nun nicht der Rede wert, wenn das amtliche Regelwerk seinem amtlichen Anspruch auch wirklich genügen würde. Doch die Ur-Fassung der Zwischenstaatlichen Kommission hat bereits so viele schleichende Änderungen und Anpassungen erlebt, dass die Schulbuchverlage schon lange nicht mehr auf der Höhe der aktuellsten Rechtschreibung sind. Da die KMK gestern erneut „kleine Änderungen“ abgenickt hat, enthalten vermeintlich neue Bücher weitere falsche Schreibweisen. Die Kommission sieht darin kein Problem. Letztlich gehe es ja nur um „Präzisierungen“ und das „Ausbügeln von Schwachstellen“, heißt es. Alle neuen Schulbücher könnten weiter benutzt werden.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, kann dieser Argumentation indes nichts abgewinnen. „Die Kinder bekommen immer mehr Varianten vorgesetzt“, kritisiert der Verbandschef. Das Hauptproblem sei immer noch, dass 80 Prozent der Bevölkerung an der alten Schreibweise festhalte. „Die Eltern drücken ihrem Nachwuchs ein veraltetes Buch in die Hand, und auch viele Autoren stellen sich nicht um!“ Die Rechtschreibung werde damit beliebig. „Bei den Kindern verfestigt sich die Vorstellung: So eindeutig ist das alles gar nicht, sagt Kraus. Den Lehrern bleibe nichts anderes übrig, als großzügig über Fehler hinwegzusehen. „Wenn Experten in jahrelanger Arbeit nicht in der Lage waren, logische Regeln aufzustellen, kann man das nicht die Schüler büßen lassen.“
Die KMK ist an dem Wirrwarr nicht unschuldig. Denn schon in der Erprobungsphase hatte sie verkündet, Schulbücher nach altem Muster nicht mehr genehmigen zu wollen. So standen die Verlage in der Pflicht, noch interpretationswürdige Regeln schnell umzusetzen. Bisweilen schossen sie da übers Ziel hinaus. Sie tilgten zum Beispiel Kommata, die nach wie vor verbindlich sind, und trieben die neue Getrenntschreibung bis zum Exzess. Zu einer Umkehr sehen die Verlage keine Notwendigkeit. Sprache sei ein lebendiger Prozess, der nicht künstlich konserviert“ werden könne, wiegelt der Branchenverband VdS Bildungsmedien Kritik ab. Doch schwerer wiegen dürfte das Kostenargument: Angesichts der bundesweit massiven Kürzungen bei der Lernmittelfreiheit und der klammen Kassen öffentlicher Haushalte können es sich die Schulträger nicht leisten, rund 40 500 allgemeinbildende Schulen mit neuen Büchern auszustatten – die vielleicht sowieso bald wieder überholt wären.
Ein Elend, das nicht enden willDie Reform der Rechtschreibung bleibt ohne Korrektur. Und auch Hoffnung ist nicht in Sicht.Von Eberhard Fehre
Düsseldorf. Die Kultusministerkonferenz hisst die weiße Fahne und kapituliert vor der deutschen Sprache. Aus der nie geliebten und stets nur widerwillig übernommenen Verantwortung für die umstrittene Rechtschreibreform von 1998 schlich sich die Politik gestern, indem sie das erneut reformierte Regelwerk zum 1. August 2005 verbindlich einführte, aber gleichzeitig die „Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung“, der wir und der Rest der deutschsprachigen Welt diese Jahrhundertreform verdanken, auflöste. Zurück bleibt verbrannte Erde, für die nun niemand mehr verantwortlich gemacht werden kann.
Am Anfang schon stand, glaubt man dem Bericht 1. Mos. 11, eine folgenreiche Reform mit Langzeitwirkung: Die babylonische Sprachverwirrung als Strafe menschlicher Überheblichkeit. „Der Turmbau zu Babel“, ein Gemälde Pieter Breughels d. Ä. von 1560.
Es scheint an der Zeit, jede Hoffnung auf eine akzeptable Korrektur der widersprüchlichen und in Teilen sogar widersinnigen Reform zu begraben. Dabei ,zielt die Kritik der Wissenschaft und fast aller namhaften deutschen Autoren nur auf einen sehr kleinen Teil der Reform. Dieser kleine Toll aber – er betrifft fast ausschließlich die Groß- und Kleinschreibung sowie die Getrennt- und Zusammenschreibung – ist ein großes Ärgernis.
Ob man die Konjunktion „dass“ nun so oder wie zuvor „daß“ schreibt, ist tatsächlich Jacke wie Hose. Der Streit darüber lohnt nicht. Das aber kann man von den vielen neuen Formen der Getrennt- und Zusammenschreibung nicht mehr sagen. Hier wird nicht nur das Sprachgefühl verletzt, sondern allzu häufig auch der Sinn entstellt. „Alleinstehende“ – seit der Reform finden wir das Wort in der Form „allein Stehende“. Doch dieser Begriff bezeichnet ja nicht „Stehende“, die zufällig mal allein oder zusammen herumstehen. Ein „allein Stehender“ wird auf dem Hauptwort betont und ist deshalb grundverschieden vom „Alleinstehenden“, der auf dem Wortteil „Allein“ betont wird. Das gilt für viele tausend Zusammensetzungen, darunter auch die mit „wohl“. Heute müssen wir „wohlunterrichtet“ stets getrennt schreiben. Aber es ist ein gravierender Unterschied zwischen der Behauptung: „Der Minister war wohlunterrichtet“ und der Aussage: „Der Minister war wohl unterrichtet“. Im ersten Fall wird dargestellt, dass der Minister bestens Bescheid wusste, im zweiten Fall klingen Zweifel am tatsächlichen Wissensstand an. Wenn wir die Sätze sprechen, machen wir den Bedeutungsunterschied ganz selbstverständlich durch die Betonung klar. In der verordneten Schriftform geht diese Differenz und damit der Sinn verloren.
Auf die breite Kritik reagierte die „Kommission“ nach fünf Jahren (!) schließlich damit, dass sie jetzt die bewährten Formen ab 2005 als „Varianten“ wieder zulässt. Beide Formen stehen gleichberechtigt nebeneinander, ganz so, als ob beide beliebig austauschbar wären. Von Systematik, begründbarer Regel und Logik keine Spur. Das Regelwerk verkommt zum Dschungel.
Doch die „Reformkommission“ verweigerte jede sachliche Diskussion darüber: Zuletzt musste sogar die „Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung“, in diesen Fragen gewiss nicht ohne jede Kompetenz, erleben, dass ihr nicht einmal zugehört wurde. Die von der Politik eingesetzte Kommission war einer offenen Diskussion schlicht nicht gewachsen. Was sie nun als „größere Freiheit“ feiert, gilt den Kritikern zu Recht als Verlust jeder festen Regel.
Nun hat die Politik die „Kommission“ aufgelöst, deren unglückliches Werk aber in Kraft gesetzt. Ein „Rat für deutsche Rechtschreibung“, unter Einbeziehung der Kritiker, soll an ihre Stelle treten. Welchen Sinn das haben soll, bleibt rätselhaft. Denn die Politik hat Fakten geschaffen – und dann die Flucht ergriffen. Man mag dies beklagen, aber verantwortlich für diese Lage sind diejenigen, die glaubten, ein in Jahrhunderten gewachsenes Gebäude am Reißbrett völlig neu erfinden zu müssen. Das konnte nicht gut gehen.
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