Re: Keine Geduld mehr
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Theodor Ickler (unter GZS)
Immer wieder stößt die Diskussion auf den bekannten Zwiespalt: Einerseits konnte die Reform sich vom Usus nicht lösen, andererseits räsoniert sie so, als gelte es, die deutsche Rechtschreibung zum erstenmal zu normieren. Dieser Spagat führt zu den meisten Ungereimtheiten, vor allem deshalb, weil die Neubegründungen weit weniger intelligent sind als der intuitiv entstandene Schreibbrauch.
Was mir gerade am Beispiel des hartgesotten wieder einmal auffiel, ist die falsche Verknüpfung in § 36: Aus einer zutreffenden Beobachtung (daß es bestimmte Infinitive als Zusammenschreibung nicht gibt) wird eine unzutreffende Schlußfolgerung gezogen (daß es die entsprechenden zusammengeschriebenen Partizipien ebenfalls nicht geben kann). Muß man aber nicht umgekehrt aus der Beobachtung, daß es Wörter gibt, die zwar wie Partizipien aussehen, zu denen aber keine entsprechenden zusammengeschriebenen Infinitive existieren, zwingend folgern, daß es dann eben keine Partizipien sind sondern Adjektive?
Bei den von Herrn Upmeyer gesammelten Beispielen (Partizip I) läßt sich diese Folgerung auf die Fälle aus Adjektiv oder Adverb + Verb und aus Verb + integriertem Objekt sowie aus Verb + Verb erfolgreich anwenden und nur auf diese. Was bedeutet das für die Neuregelung? Nehmen wir an, aus der beschriebenen Beobachtung würde die richtige Folgerung (Adjektiv) gezogen. Ist diese Regelkonzeption ein gangbarer Weg, stellt sie einen Fortschritt dar? Auf den ersten Blick scheint dieser Ansatz ja ganz brauchbar zu sein.
Dazu 2 Aspekte: (i) Mir scheint, daß damit die am einfachsten zu erkennenden Fälle abgedeckt werden, für die aus formalen Gründen sicherlich eine formale Regelung sinnvoll ist, die sich aber andererseits semantisch leicht erschließen lassen. Mit anderen Worten: Es ist einfach klar, daß es sich um Adjektive handelt (auch wenn die Neuregelung in manchen Fällen [wie etwa allgemeinbildend, aufsehenerregend] zu einem anderen abwegigen Urteil gekommen ist). Das heißt nicht, daß diese Regelkonzeption schlecht oder überflüssig wäre; ich habe den Eindruck, daß sie das, was einem das eigene Sprachgefühl sagt, grammatisch auf den Punkt bringt. Ob das wirklich ein Fortschritt ist, kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, was es dazu bislang gab.
(ii) Es werden nur diese (einfachen) Fälle abgedeckt, d. h. die wirklich schwierigen bzw. problematischen entziehen sich diesem Ansatz. Mit schwierig meine ich hier, daß man eben nicht auf den ersten Blick entscheiden kann, ob es sich um ein Adjektiv oder ein Partizip handelt, weil das Wort beide Funktionen haben kann und beide Male in dieser Form auftritt (siehe die Fälle aus intransitiven Verben und intransitive Partizip I aus transitiven Verben bei Herrn Upmeyer). Hier kommt es auf den Satzzusammenhang an und also letztlich auf die Semantik.
Fazit: Ein formales Kriterium kann als Hilfestellung dienen, das semantische Kriterium aber nicht ersetzen. Die reformierte Rechtschreibung favorisiert die formalen Kriterien. Wenn man dabei nicht sehr gut aufpaßt, wird sich leicht ein systematischer Fehler bzw. eine Lücke ins Regelwerk einschleichen. Paragraph 36 hat solche Fehler und Lücken. Was kann man tun? a) Nachbessern, d. h. nachträglich die Sorgfalt walten lassen, die das Favorisieren formaler Kriterien bei der Regelkonzeption fordert. b) Das Konzept des Favorisierens formaler Kriterien fallenlassen und ihnen eine untergeordnete Rolle zuteil werden lassen. Auf die Frage, was im letzteren Fall dann ersatzweise favorisiert werden soll, gibt es wieder mehrere Antworten, die m. E. von einer fundamentaleren Frage abhängen: Was geht vor, Regelwerk oder tatsächlicher Schreibbrauch? diesen Faden will ich jetzt lieber nicht weiterspinnen, vielleicht hat mich mein Gedankengang ja schon etwas in die Irre geführt...
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Th. Ickler: Übrigens verdient Herr Wagner mit seinen scharfsinnigen Exegesen hohes Lob; man kann jetzt immer wieder auf seine feinsinnigen Beobachtungen zurückgreifen. Vielen Dank für das Lob; ich hoffe sehr, daß meine Beiträge den von Ihnen genannten Zweck erfüllen!
Aber: Enjoy, but handle with care ich hoffe auch, daß man sie immer genau prüft, weil ich in manchen Dingen, mit denen ich mich weniger gut auskenne (wie etwa der Grammatik oder Feinheiten der Rechtschreibung vor der Reform), auch danebenliegen kann. Das ist ja das Gute an diesem Forum, daß man auf verschiedene Art und Weise etwas dazulernen kann indem man sich selber bemüht, zu einem Schluß zu kommen, und indem man sich von anderen korrigieren läßt.
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Jan-Martin Wagner
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