24. August 2004 20:47
Das erste und letzte Medium des Menschen
Die Greuel des Thomas Mann, und was zur Debatte um die Rechtschreibreform noch und vor allem zu sagen ist Ein Kommentar der anderen
Marie-Thérese Kerschbaumer ist Schriftstellerin und lebt in Wien
Kanzler sagt, es gibt Wichtigeres als die Argumente für und wider die Rechtschreibreform. Die Dichter sagen: Es gibt nichts Wichtigeres, als das dem Menschen ureigene Merkmal, die Fähigkeit, Sätze eines bestimmten Codes, einer gegebenen (Mutter-)Sprache zu erlernen, sich deren Regeln anzueignen, zu verinnerlichen und im Laufe der Menschheitsgeschichte zu verfeinern und zu vervielfachen.
Das Erfinden und Weitergeben der Schriftform einer gegebenen Sprache ist eine Kulturtechnik, die nach heutigem Wissen erst spät und von verschiedenen Kulturen ungleichzeitig erarbeitet worden ist. So wichtig in Jahrtausenden vorschriftlicher Zeit das Erinnern mündlicher Überlieferung mit Hilfe musikalisch-rhythmischer Formen war, so bedeutend wurde die schriftliche Form, also die genormte Grammatik und Orthographie einer jeweiligen Schriftsprache und im Falle der deutschen Sprache nicht zuletzt dank Martin Luther die Verbreitung der Kulturtechniken Lesen und Schreiben. Dieses Volk der Schreiber und Leser bezieht seit Kindertagen einen großen Teil seines Selbstwertgefühls aus dem Wert, den seiner Sprache im öffentlichen Bewusstsein zugemessen wird.
Aus diesem Grunde ist die Soziolinguistik der 1960er-Jahre bemüht gewesen, strukturbedingte Abweichungen ohne Abwertung einsichtig zu machen und, um nur ein Beispiel zu nennen, die rückbezüglichen Fürwörter des Wienerischen Beispiel sehn wir sich statt sehn wir uns als Rest einer älteren Sprachschicht im Code dieser Gegend verankert zu erkennen und den Schülern die hochsprachliche Form leichter erkennbar zu machen und zu vermitteln.
Masse ist nicht Qualität
Die zunehmende Verengung des Sprachschatzes, ja Verringerung der sprachlichen Kompetenz, Fremdeinflüsse, Bequemlichkeit bis Denkfaulheit der Warenwelt in der Bildung von Lehnübersetzungen, das Überhandnehmen der Bildersprache, all das fördert nicht die Lernfähigkeit für andere Sprachen. Die Spr
Die Thematisierung der Verschriftlichung einer Sprache durch die Dichter und Dichterinnen des Landes (deren Arbeitsmaterial oder Medium die Sprache selbst ist) einerseits als lächerlich zu deklarieren, andererseits die Dichter als jene zu brandmarken, die künftig auf eigene Gefahr nicht richtig schreiben, verunglimpft nicht nur die Dichter, sondern das Medium Sprache selbst. Was auf die gesamte Sprachgemeinschaft, ob bewusst oder nicht, demütigend wirkt.
Die Argumente der Reformer sind unwahr, unrichtig und, wo zur Norm erhoben, Anstiftung zu Unwahrheit, also Unrecht. Ererbte Wörter besonders diese werden mit missverstandenen oder absichtlich falschen Herkunfts-und Wortgeschichten diktatorisch neu geschrieben, und der durchschnittliche Sprachschatz nicht nur verkleinert, sondern die kommende Generation erneut und zusätzlich um das Erlebnis der Spurensuche eines Wortes durch Raum und Zeit, um die Freude des Wiedererkennens, um die Geschichte gebracht.
Verachtung der kindlichen Lernfähigkeit
Die Verbindung des deutschen Eigenschaftswortes rauh über altenglisch rúh und niederländisch ruig zum heutigen englischen rough wird verdeckt, wie einst Karthago zum Verschwinden gebracht. Dessen Anfänge reichen bis an die Grenzen der Erinnerung zurück, als die Menschen mit dem Groben, Haarigen und Ungezähmten vertraut waren, im Urältesten (indogermanisch) aufreißen und wühlen mussten. In der jüngeren Zeit, ab 1529, hatten sie mit edlem Pelzwerk der Kürschner oder dem Rauchwerk zu tun, aber sowas hamma ned, und den Unterschied der Nuancen oder gar einen elaborierten Code, sprich erweiterten Sprachschatz, kennt der Computer nicht.
Eine Sprache aber, die im eigenen Lande nichts wert ist, und deren hochsprachliche Regeln, von Kind an als Last suggeriert, dem Kind unter Stöhnen der Lehrer nicht zumutbar sind, die einzig der verächtlich gemachten und zunehmend deklassierten Intelligenz einer (von den Mächtigen nicht wahrgenommenen) Rede wert ist, bedeutet nichts. Und die Sprecher dieser Sprache, ein ganzes Volk, bedeutet auch nicht so viel.
Der Kinder wegen, so hieß es, müsse vereinfacht werden! Welche Verachtung der kindlichen Lernfähigkeit! Der Kinder wegen, heißt es nun, könne man nicht in den mutwillig und unter Kosten veränderten früheren Zustand zurück. Was für eine Verachtung unserer Intelligenz!
Verwerfliche Bildung
Das erste und letzte Medium des Menschen: eine Sache für eine geheime Kammer von Rechthaberei. Geldbeschaffung für Kostenverursacher, die zu uns über Kosten reden wollen. Die Sprache, ein Gegenstand für Volksschulnoten, danach kommen Sintflut und Arbeitslosigkeit. Intelligenz, Sprachkompetenz und Bildung: unwichtig, vielleicht sogar verwerflich. Das zu deklarieren mag den Rechthabern Freude und dem frustrierten Volk die fürs Rechthalten benötigte Resignation bringen: Achtung im Chor der Völker bringt es nicht.
Johann Wolfgang Goethe, so sich noch jemand seiner erinnert, umschreiben oder ihn als für Kinder nicht richtig und daher ungeeignet erklären, in jedem Fall nicht lesbar. Desgleichen Thomas Mann mit seinen unrichtigen biblischen Greueln in der Josephstetralogie, wer ist das schon. Von Ingeborg Bachmann, Hermann Broch, Joseph Roth, Robert Musil, Hans Lebert zu schweigen: Neu gedruckt wird, was dem herrschenden Geist entspricht und in wen investiert werden soll. Das schafft Platz, für die da kommen werden. (DER STANDARD; Printausgabe, 23.8.2004)
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