Zum Eintrag vom 09.11.2004, 04:38 Re: Verminderte Fähigkeit zu begrifflichen Denken
Re: Verminderte Fähigkeit zu begrifflichem Denken
Zitat:Ursprünglich eingetragen von Karin Pfeiffer-Stolz
In dem Buch „Der Verlust der Sprachkultur“ von Barry Sanders (S. Fischer Verlag) erfahren wir viel darüber, wie notwendig Sprache ist für das abstrakte Denken. „Für Kinder mit gestörter Sprachentwicklung sind ... räumliche Beziehungen verwirrend. Das heißt, sie haben nicht teil an der reziproken Beziehung zwischen dem, was draußen vor ihnen ist, und dem, was in ihnen ist.“ (s. 100)
Sprechen ist die Voraussetzung für Schreiben. Wenn Kinder nicht genügend im Sprechen geübt sind (Fernsehen etc.), wird es für sie sehr schwierig, das Lesen und Schreiben zu erlernen.
Aber so wie Wörter erst dann zu existieren beginnen, „wenn der gesamte Bestand an gesprochenen Lauten auch niedergeschrieben werden kann“, so beginnt das abstrakte Denken erst mit der Alphabetisierung. Das Wort entsteht durch Lesen, das begriffliche, reflexiv-kritische Denken ebenfalls. Der Rückgang der Literalität sollte uns erschrecken und warnen vor den möglichen Folgen, die wohl keiner der eifrigen Pädagogik-, Gesellschafts- und Sprachreformer je bedacht zu haben scheint.
Einige Anmerkungen stichwortartig:
Lesen und Schreiben sind für viele Kinder wesentliche Austauschmittel und Quellen der Persönlichkeitsbildung; für wesentlicher noch halte ich das Gespräch und das Spiel.
Es gibt wichtige „Sprach“bereiche, die vom Schreibmaschinen-Abc nicht erfaßt werden; so die Dur- und Molltonleitern, die innere Folgung von Akkordkadenzen, die Folge- und Spannungsbögen in einem Musikstück, die Anmut und Eingängigkeit eines Liedes. Auch Analphabeten können großartige Musiker sein. Und auch blinde Nichtleser können wesentliche Denker sein.
Ein weiterer „Sprach“- und Intelligenzbereich, der von Sprache kaum erreicht wird, sind die Freuden, Regungen, Empfindungen und Herzenswünsche eines Menschen – diese „Sprache des Herzens“ ist für ein Menschenleben ungleich einflußreicher als sein abstraktes Denken.
Es geht mir also darum, daß Kinder ganzheitlich ausgebildet werden und in ihrer Gemütsstärke nicht verkümmern.
Detlef Lindenthal
Ich wäre vorsichtig mit der Behauptung, daß das abstrakte Denken erst mit der Alphabetisierung beginnt. Sprache ist
an sich schon etwas Abstraktes. Auch die Aussage, daß Wörter erst dann zu existieren beginnen, wenn der gesamte
Bestand an gesprochenen Lauten auch niedergeschrieben werden kann, ist meines Erachtens nicht haltbar. Dann müßte man
ja erst das gesamte Alphabet und dann erst die ersten Wörter lernen können. Natürlich lernt man zuerst einige Buchstaben, bildet einfache Wörter mit ihnen, lernt dann neue Buchstaben, usw. Ähnliches gilt für das Erlernen der
Stenographie, nur daß hier noch Kürzel und Silbenzeichen hinzukommen.
Meiner Meinung nach sind die Folgen des Rückgangs der Literalität von den Pädagogik-, Gesellschafts- und
Sprachreformern sehr wohl bedacht, ja sogar bewußt in Kauf genommen worden. Mehr noch, es kommt einem fast so vor,
als ob diese Folgen bewußt herbeigeführt werden sollten. Ein Beleg für diese Aussage ist die Tatsache, daß sowohl von
den Reformern als auch den Kultusministern an der Rechtschreibreform festgehalten wird, obwohl deren negative Folgen
schon seit langem sichtbar sind. Hätte man wirklich das Wohl der Schüler im Auge gehabt, dann wäre man bei einem
so weitreichenden Eingriff, wie ihn eine Rechtschreibreform in eine Gesellschaft darstellt, sehr viel vorsichtiger
und vielleicht sehr viel ''unsicherer'' vorgegangen. Dann würde man, falls sich negative Folgen zeigen sollten, die
Sache sofort zurücknehmen wollen!
Zitat Detlef Lindenthal:
''Menschliche Zusprache, Einbindung und Geborgenheit, wie Familie, Dorf und Verein usw. sie geben, halte ich für wichtig; im Gegensatz zu den Instantmedien lassen sie dem Kind sein eigenes Zeitmaß und Aufmerksamkeitsraster.''
In der Theorie mag das so sein! In der Praxis gibt es für viele Kinder kaum menschliche Zusprache, Einbindung und
Geborgenheit, weder in der Familie, noch im Dorf, Verein, usw. Eltern können aus den verschiedensten Gründen nicht
mit ihren Kindern sprechen, Kinder trauen sich nicht, mit ihren Eltern (über gewisse Probleme, z. B. Terror an den
Schulen) zu sprechen, weil Eltern nicht mit den Kindern sprechen können; in der Schule, im Dorf oder im Verein findet
Mobbing statt und Erwachsene erkennen das nicht, oder nehmen das nicht ernst oder sind selbst mit der Situation
überfordert, gleiches gilt für manche Lehrer -- andere Lehrer widerum gehören zu der Gruppe der Gesellschafts- und
Sprachreformer und reiten die Kinder erst in diese Schwierigkeiten hinein ...
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