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Der Duden und unser Volkscharakter
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Detlef Lindenthal
07.09.2005 21.43
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Karl-Heinz Isleif schrieb:
Die Lösung, daß alle drei [Ausdrücke] richtig sein könnten, wurde übrigens keinesfalls ausgeschlossen. Man kann das ja auch auf deutsch auf mehr als nur eine Art sagen.
Das trifft manchmal zu. Bei den Wörtern fallen mir an Mehrfachformen ein:
– des Rechts und des Rechtes;
– Oxid und Oxyd;
– backte und buk;
– selber und selbst;
– dies und dieses;
– KFZ und Kfz, LKW und Lkw, Photo und Foto und Photographie;
– Rechtschutzversicherung und Rechtsschutzversicherung;
Soo überaus viele Mehrfachformenformen sind es durchaus nicht, man muß schon suchen.

Deutlich öfter trifft es aber zu, daß die Mütter und die Kinder (denn die sind die wahren Sprachfachleute, niemand erzeugt derart viel Hochsprache wie Mütter und Kinder) Eindeutigkeit wünschen.
Diesen Mechanismus kenne ich noch, als ich meinem damaligen Deutschlehrer, Herrn Dr. Rainer Zacharias, den Ausdruck „anlangt“ nicht durchgehen lassen wollte, denn ich kannte nur „anbelangt“, und deshalb erschien mir das schmalere „anlangt“ falsch.
Das kindliche Aussieben und Eindeutig-haben-Wollen sehe ich als einen überaus wichtigen Sprachpfleger, und ich denke, daß unserer lebendigen Sprache ein Bärendienst erwiesen wird, wenn sie durch Prof. Augst und 200.000 ihm nachtrottende Deutschlehrer an Eindeutigkeit verliert.


Zur Duden-Frage: Die Wörterbuch-Fachbastler haben verkannt, daß alles Experimentieren Streuung verursacht, also mit statistischer Wahrscheinlichkeit Zielverfehlung, solange nicht mit viel, viel Aufmerksamkeit von vielen Prüflesern und Mitdenkern die Ergebnisse solcher Kultur-Gentechnik und -Spontanmutationen auf ihre darwinistische Überlebenstüchtigkeit überprüft werden. Ein Kulturkreis ohne Sprache geht unter. Und wenn er seine Sprache und seine Denkgenauigkeit „nur“ verkommen läßt, verkümmert er.
Besser als bei den jüngeren Wörterbuchbasteleien (Duden und Bertelsmann ebenso wie Ickler) tun Wörterbuchfreunde gut daran, sich das Beispiel von Wikipedia mit Wiktionary sehr genau anzuschauen; das hat zwar bisher noch deutliche Unzulänglichkeiten, aber eines ist genial gut: Daß viele Menschen beteiligt sind; nur wenige Menschen zu beteiligen führt zu schwachen Erzeugnissen.
__________________
Detlef Lindenthal

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Karl-Heinz Isleif
07.09.2005 08.16
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Der Duden und unser Volkscharakter

Die Diskussion (nicht in diesem Forum) treibt, geschickt gelenkt von einigen Oberdenkern, bisweilen in eine Richtung, die mich zum Widerspruch reizt:

Die ach so fürchterlichen Schwerstverbrechen des (alten) Duden habe ich nie als solche wahrgenommen (und das 'Volk', soweit ich weiß, auch nicht). Der Duden war nie das Problem. Nicht, daß er nicht verbesserungswürdig gewesen wäre, das vielleicht schon. Aber seine Unzulänglichkeit hat nach keiner Rundumschlagreform verlangt. Die Unzufriedenheit mit dem Duden ist limitiert auf ein paar laute und selbst im Alter noch höchst ehrgeizige 'Mitstreiter'. Der Verdacht drängt sich auf, daß denen in Wirklichkeit nur der Name auf dem Einband des Wörterbuchs ein Dorn ist. Wäre das Werk mit ihrem eigenen Namen geschmückt, wäre er wohl weg, der Schmerz im Auge. Den Rest der belesenen Menschheit haben der Duden und seine Mängel nicht interessiert. Man hat dem Duden seine Schrullen nachgesehen.

Die Rechtschreibreform darf nicht auf noch so geschickte rhetorisch demagogische Weise zur Erbsünde des Duden umgedeutet werden. Diese perverse gedankliche Umleitung gebiert Gebilde, die zwangsläufig ebenso verzerrrt sind.

So ist da plötzlich eine 'typisch deutsche Untertanenmentalität' verantwortlich und in aller Munde. Die Deutschen gehorchten dem Duden aufs Wort wie ein trainierter Schäferhund, und nur darum konnte sich das Wörterbuch überhaupt so weit vorwagen. Ein 'Regelungsbedürfnis', das es so angeblich nur bei uns Deutschen gibt, wird plötzlich sherlokholmisch aus unser aller Charakter herausgefiltert und als verwerflich einer nickenden Zustimmgemeinde zum Draufrumreiten angeboten.

Was soll der Quatsch? Ich bin in drei Ländern der Welt auf irgendwelche Schulen gegangen, und überall hat man mir meine Fehler angestrichen, wenn ich falsch geschrieben habe. Die Lehrer dort haben das nicht ad hoc entschieden, sondern sich nach irgendwelchen Regeln gerichtet. Welchem Untertanengeist sind die alle gefolgt? Natürlich geht's bei uns manchmal etwas rigider zu als anderswo. Aber überall gilt ein korrekter Sprachgebrauch als Zeichen von Bildung – ob man das gutheißt oder nicht. Also bemühen sich die, die nicht sofort als Deppen gelten und außerdem auch noch verstanden werden möchten, um 'richtige' Sprache und Schrift. So einfach sind die Hintergründe. Das gilt nicht nur im Deutschen. In Amerika passen die Leute, die lesen und schreiben können, ganz genau auf, was man so von sich gibt (und haben genau wie wir Deutschen ihre Schubladen bereit, in denen die Leute dann verstaut werden).

Ich habe ein Jahr als Austauschler in Sapporo an der Hokkaido Universität studiert. Meine Professorin, ihres Zeichens Linguistin und Ainu-Sprachexpertin, nahm mich einmal mit in einen Kreis erlauchter japanischer Sprachgelehrter. Da saßen sie um den Tisch, lauter lang- und weißhaarige Gestalten, jede so dürr wie das Brillengestell auf ihrer Nase, und berieten solch fundamentale Dinge wie 'auf einen Berg steigen'. (Bitte fragen Sie doch mal Ihre japanischen Bekannten.) Sagt man nun

yama ni noboru,
yama he noboru oder gar
yama wo noboru?

Rauchschwaden füllten den Raum, bis man den Nachbarn nur noch am Klang der Stimme erkannte. Professorenstirne wurden wundgekratzt. Eine Lösung gab's zwar nicht ('Also ICH sage immer so...'), aber es war ihnen offenbar nicht egal, wie man es richtig sagt. Den Helden, die in dem Bemühen um 'das Richtige' ein besonders verachtenswertes deutsches Verhaltensmuster sehen, möchte ich immer zurufen: Habt ihr schon mal japanische Lehrer erlebt, wenn die Okurigana (Wortendungen) zum Thema machen? (Natürlich nicht, wie auch!)

Die Lösung, daß alle drei Bergbesteigungen richtig sein könnten, wurde übrigens keinesfalls ausgeschlossen. Man kann das ja auch auf deutsch auf mehr als nur eine Art sagen.


Die Diskussion um die Rechtschreibreform findet nicht statt, weil der Duden schlecht war, oder weil den Deutschen das rechte Maß bei der Betrachtung ihrer Sprache fehlt. Nein, sie ist (bei mir) in der Kritik, weil sich irgendein lieber Augustin, ein Oberclown namens Augst, erfrechte, mir seine Sicht der Dinge aufzuzwingen. Ich habe nichts dagegen, wenn einer Portmonee schreibt. Ich habe aber was dagegen, wenn diese Schreibe von irgendeinem überforderten Augst dem ganzen Volk befohlen wird.

In diesem Sinne sind die auffälligen Delfine, die Tipps und die Kängurus die besseren und schlimmeren Beispiele. Sie zeigen nämlich, auf welcher geistigen Ebene die Reformbemühungen abgelaufen sein müssen. Bei der Frage, ob heute Abend oder heute morgen, kann man ja noch argumentieren, diese Augstiner hätten beim fast gleichnamigen Bier angestrengt nachgedacht, sie seien aber zum falschen Schluß gekommen. Bei Tipp geht das nicht mehr. Tipp ist untrügliches Indiz für geistige Homöopathie.

Nicht der überkomplizierte Duden war es, der den Tipp erzwang, auch nicht die Bemühung um Befreiung von typisch deutschen Verhaltensformen. Den Tipp und seine Kumpane haben Arroganz und Dummheit geboren. Wenn schon Kritik an der Reform und deren Vorreiter, dann bitte in diese Richtung. Laßt den Duden und den Volkscharakter der Deutschen in Ruhe. Entlarvt den 'Wissenschaftler' Augst und seine Mitschreiberlinge in den Kultusministerien endlich als Pfeifen und Qassler. Dann sieht man die Dinge wieder in der richtigen Proportion.

Karl-Heinz Isleif
Tokyo, Japan

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