Schweiz: Sprachkreis Deutsch
Besser ist nicht gut genug
Der neue Rechtschreib-Leitfaden der Bundeskanzlei
Stefan Stirnemann, Mitglied der Arbeitsgruppe der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK)
Unsere Bundeskanzlei hat im letzten Jahr die dritte Auflage ihres Leitfadens zur deutschen Rechtschreibung herausgegeben. Verantwortlich ist die Sektion Deutsch der Zentralen Sprachdienste; die Autorinnen und Autoren werden nicht genannt. Offen ist auch die Frage, ob wie bei den früheren Auflagen Peter Gallmann und Horst Sitta als Berater tätig waren. Gallmann und Sitta sind die führenden Schweizer Reformer und Autoren des Dudenverlags; Gallmann ist Mitglied im Rat für Rechtschreibung.
Die Vorgänger des neuen Leitfadens erschienen in den Jahren 1998 und 2000. Die, wie es im Untertitel heisst, «vollständig neu bearbeitete Auflage» wurde nötig, weil der Rat für Rechtschreibung im Jahre 2006 mit dem dritten amtlichen Regelwerk vieles von dem rückgängig machte, womit die Reformer einst stolz angetreten waren. So schreibt nun auch die Verwaltung wieder «es tut mir leid» und nicht mehr «es tut mir Leid». Es gibt wieder fleischfressende Pflanzen, nachdem sie in Bern zehn Jahre lang «Fleisch fressend» gewesen waren, und in gleicher Weise werden viele Wörter wiederhergestellt, welche im Zuge der Neuregelung durch Getrenntschreibung abgeschafft worden waren: gleichgesinnt, schwerwiegend, selbstgenutzt, wildlebend, sogenannt.
Das ist zweifellos eine Verbesserung. Es fragt sich freilich, warum man zehn Jahre lang so vieles so falsch geschrieben hat. Dazu sagen die Autoren des Leitfadens nichts, und das ist die erste Kritik, mit der sie sich auseinandersetzen müssen: sie erwähnen die Reform der Reform nur und erläutern sie nicht. Der Leitfaden will laut Vorwort nicht mehr von einem alten in einen neuen Zustand überführen, das heisst, er gibt nicht mehr an, was herkömmliche Rechtschreibung und was Reform ist. Ein Beispiel: Der Leitfaden 2000 bietet 52 Einträge mit dem Buchstaben h. Von diesen sind nun 31 abgeändert worden, meistens so, dass die herkömmliche Form wieder gilt, entweder ausschliesslich oder als Variante: hoch begabt ist wieder hochbegabt, Holz verarbeitend wieder holzverarbeitend, neben Hand voll tritt als Variante Handvoll. Das alles wird aber ohne jede Erklärung und stillschweigend durchgeführt. Folge: Die Leserinnen und Leser, welche ja kaum die Entwicklungen der letzten zehn Jahre überschauen, können sich kein Bild der Lage machen und müssen glauben, was ihnen der Leitfaden vorgaukelt: dass sie es mit der nunmehr gefestigten Neuregelung zu tun hätten – während tatsächlich Kernbereiche jener Neuregelung zurückgenommen wurden.
Diese Zurücknahme beweist doch wohl, dass der Widerstand gegen die Reform sachlich begründet ist. Davon liest man im Leitfaden nichts. Die Autoren sagen nur, dass es noch immer vehemente Gegnerinnen und Gegner der neuen Regelung gebe, dass ihre Zahl aber kleiner geworden sei – und sie sagen nicht, dass zu diesen Gegnern auch sie selber gehören, sofern nun auch sie vieles wieder schreiben wie vor der Reform. Sie geben als Neuregelung aus, was in Wahrheit Wiederherstellung der herkömmlichen Regelung bedeutet.
Wozu dieses Manöver der Umbenennung? Es erschwert ja den Mitarbeitern der Verwaltung die Arbeit, denn wer sich im Tohuwabohu der neu eingeführten und wieder zurückgezogenen Schreibweisen zurechtfinden soll, muss unbedingt wissen, dass zum Beispiel die nahe stehenden Personen keineswegs der «bisherige Ausdruck» sind, wie auf Seite 12 des Leitfadens behauptet wird, sondern der reformierte Ausdruck, den die Autoren jetzt durch die herkömmlichen nahestehenden Personen ersetzen.
Die Umstellung hat aber noch andere Folgen.
Die zahlreichen Ersetzungen, welche die Autoren gegenüber den früheren Auflagen vorgenommen haben, und dazu die vielen Varianten, die der Rat für Rechtschreibung aufgelistet hat, bewirken, dass wichtige Begriffe in unterschiedlicher Schreibweise vorkommen. Das kann Probleme bei der Auslegung geben. Die Autoren diskutieren verschiedene Lösungsmöglichkeiten, müssen aber am Ende festhalten: «Notfalls – wenn gar kein Weg gangbar erscheint – muss die korrekte Rechtschreibung hinter der
Rechtssicherheit zurückstehen.» So rätselhaft dieser Satz klingt, er zeigt Schwierigkeiten, die es vor dieser Reform nicht gab. Die Schwierigkeiten sind hausgemacht. Ein klares Offenlegen des Standes der Dinge schafft hier Abhilfe. Nötig sind freilich auch klare Grundsätze in der Auswahl der Schreibweisen.
Damit sind wir beim zweiten Kritikpunkt: Die Autoren des Leitfadens erfüllen einen Auftrag des Bundesrates und des Nationalrates nicht. Nationalrätin Kathy Riklin (CVP) reichte am 27. September 2004 ein Postulat ein, das verlangte, dass «die bisher möglichen Bedeutungsdifferenzierungen durch Zusammen- und Getrenntschreibung erhalten bleiben». Am 24. November beantragte der Bundesrat, das Postulat anzunehmen. Was hat der Rat für Rechtschreibung in dieser Frage getan? Er musste offenbar Rücksicht auf die deutsche Innenpolitik und die grossen Wörter- und Schulbuchverlage nehmen und konnte sich nicht dazu durchringen, die falschen Schreibweisen der Reformer wieder abzuschaffen; so gab er durch einen faulen Kompromiss als Varianten aus, was tatsächlich keine Varianten sind.
Gemäss Schweizer Schülerduden gilt zur Zeit zum Beispiel, dass ein wohlbekannter Schriftsteller dasselbe sei wie ein wohl bekannter. Die Autoren des Leitfadens hätten die Pflicht gehabt, die falschen Varianten auszuschliessen. Das haben sie aber in vielen Fällen nicht getan, und so verunmöglichen sie die vom Postulat Riklin verlangte Bedeutungsdifferenzierung. Beispiele: vielversprechend steht ohne Bedeutungsunterschied neben viel versprechend, wohl überlegt steht gleichbedeutend neben wohlüberlegt, und sie ist weit gereist soll dasselbe sein wie sie ist weitgereist. Dazu kommt eine Fülle von weiteren Festlegungen, die man nicht begreifen kann: gleichdenkend ist nur zusammen richtig, andersdenkend aber darf auch anders denkend sein; frauenverachtend gibt es nur so, menschenverachtend darf man auch trennen (Menschen verachtend); wildlebende Tiere schliesslich fressen wild wachsende/wildwachsende Pflanzen.
Woher das Durcheinander? Es kommt von den in vieler Hinsicht unklaren Vorgaben des Rates für Rechtschreibung und vom Zeitdruck, unter dem auch dieser dritte Leitfaden sichtlich leidet. Was ist zu tun?
Für die nächste Auflage muss der Leitfaden nochmals überarbeitet und gründlich verbessert werden. Hoffentlich werden die Autoren dann auch auf ihren absurden Versuch zurückkommen, unserem Land die seit langer Zeit ganz unübliche Form «selbstständig» aufzuzwingen. Den nächsten Leitfaden sollte die Bundeskanzlei gratis abgeben. Wer die dritte Auflage gekauft hat, hat für ein stark fehlerhaftes Erzeugnis Geld ausgelegt.
Auch der Rat für Rechtschreibung wird seine Arbeit fortsetzen müssen, denn auch dem dritten amtlichen Regelwerk fehlt die allgemeine Zustimmung. Vier Hinweise dazu: Gegen 700 österreichische Autorinnen und Autoren untersagen in einer Erklärung Eingriffe in die Textgestalt, «auch jene, die als orthographische Anpassung bezeichnet werden». Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek schreibt: «Man darf den Worten und Wörtern nur keine Zwangsjacke anziehen, bis sie sich nicht mehr bewegen können. Aber das ist mit der Rechtschreibreform und deren neuester Reform der Reform (ohne daß die Form je viel schöner würde), die ich kaum irgendwo umgesetzt sehe, leider passiert (...).»
Der Rat für Rechtschreibung schreibt im Protokoll seiner letzten Sitzung vom Oktober 2008: «Allgemein wird dafür gehalten, dass der Text des amtlichen Regelwerks von der Praxis nicht angenommen wird (...). In der Folge wird vorgeschlagen, probeweise für den Bereich Groß-Klein-Schreibung eine Neuformulierung vorzunehmen.» Peter Eisenberg schliesslich, der im Rat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung vertritt, schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17. April, dass gewichtige Folgeschäden der Neureglung geblieben seien und dass der Text des Regelwerkes des Rates unentschieden, unverständlich und voller Widersprüche sei. Eisenbergs Kernaussage lautet: «Die Orthographie ist weder dazu gemacht, dass man mit ihr erfolgreich Wörterbuchverlage betreibt, noch dazu, in der Schule gelehrt zu werden. Sie ist, wie sie ist. Erst daraus gewinnt sie ihre Würde als allgemein verfügbares kommunikatives Werkzeug.» Eisenberg kündigt einen Verbesserungsvorschlag der Akademie an.
Die Auseinandersetzung um die Neuregelung ist also keineswegs abgeschlossen. Bei uns wird diese Auseinandersetzung durch die Schweizer Orthographische Konferenz (SOK) geführt. Sie muss keine Rücksicht auf deutsche Politik und Wirtschaft nehmen und kann sich auf die Sache ausrichten. Ihre Arbeitsgruppe ging vom Regelwerk des Rates für Rechtschreibung aus. Bei der Ausarbeitung ihrer Empfehlungen richtete sie sich wesentlich nach der Praxis der NZZ.
Die Empfehlungen schlagen durch; sie werden unterstützt vom Vorstand des Verbandes Schweizer Presse und der Konferenz der Chefredaktoren. Am 20. August veranstaltet die Arbeitsgruppe der SOK an der Schweizer Journalistenschule (MAZ) eine erste Ausbildung.
Mit ihren Empfehlungen setzt die SOK die Verbesserungen des Rates für Rechtschreibung vom Jahre 2006 konsequent um und führt in einigen Bereichen weitere Verbesserungen durch.
Die Arbeitsgruppe hat den neuen Leitfaden der Bundeskanzlei geprüft und besprochen; dieser Artikel benennt einen kleinen Ausschnitt seiner Probleme. Für sie gibt es klare und einfache Lösungen. Die SOK hat diese Lösungen und würde sie gerne auch in Bern zur Diskussion stellen. Die SOK würde sich über eine Zusammenarbeit mit den Autoren des Leitfadens freuen.
http://www.sok.ch
Rechtschreibung
Leitfaden zur deutschen Rechtschreibung
Schweizerische Bundeskanzlei, in Absprache mit dem Präsidium der Staatsschreiberkonferenz
3., vollständig neu bearbeitete Auflage 2008
Quelle:
http://www.sprachkreis-deutsch.ch/files/mitteilungen/2009-1-2.pdf
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