Hütet Euch vor den Politikern!
Schulreform-Volksentscheid in Hamburg
Diese Kröte muss man schlucken
Das gab's in Deutschland noch nie: Bürger stimmen über ein Schulsystem ab. In Hamburg sind die Verhandlungen mit Reformgegnern geplatzt, jetzt kommt es zum Volksentscheid im Interview erklärt Bürgermeister Ole von Beust, wieso er an einen schwarz-grünen Sieg glaubt und Kinder länger gemeinsam lernen sollen.
SPIEGEL ONLINE: An diesem Mittwoch haben Vertreter der schwarz-grünen Regierung zum sechsten Mal mit Vertretern der Initiative Wir wollen lernen an einem Tisch gesessen. Nun sind die Verhandlungen zur Schulreform... sagen Sie es uns: ausgesetzt, unterbrochen, abgebrochen? Gescheitert?
Ole von Beust: Die Verhandlungen sind ausgesetzt. …
[Die alte Taktik der Politikerklasse: Mit den Initiativen reden, um ihnen den Schwung zu nehmen und sie dann über den Tisch zu ziehen. Auch Heide Simonis in Kiel hatte das angeboten – zum Glück erfolglos. Nach dem Volksentscheid sind dann die Bürgerinitiativen für die Politiker nicht mehr existent. Die kungeln alleine weiter, um das Ergebnis möglichst auszutricksen und zu verwässern.]
Beust: … Qualitätsstandards hat die Initiative selbst heute noch einmal in einem Papier vorgeschlagen. Wir waren bereit, diese Bedingungen zu erfüllen. Im Gegenzug hätte die Initiative auf ihre Forderung verzichten müssen, erst den wissenschaftlichen Nachweis zu erbringen, dass die Primarschule das bessere System ist, bevor sie flächendeckend eingeführt wird und damit die Reform um mehrere Jahre zu verzögern. Dazu war Wir wollen lernen aber nicht bereit.
[Bei der „Rechtschreibreform“ waren die Kultusminister auch nicht bereit, wissenschaftliche Nachweise (bis auf das alberne Jogurt-Becher-Diktat) zu erbringen oder anzuerkennen. Das Ergebnis ist bekannt.]
SPIEGEL ONLINE: Damit ist ein Volksentscheid unabwendbar?
Beust: Jedenfalls ist die Initiative am Zug, sofern sie einen Kompromiss wirklich will. Den haben sicher nicht alle in der Initiative gesucht. Manche wollten schlicht das längere gemeinsame Lernen ganz verhindern, das stand für sie von Beginn an fest, so scheint es. …
[Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, daß begabte Schüler in ihrer Entwicklung behindert werden. Ich hatte in S-H die Umstellung von sechs- auf vierjährige Grundschulzeit hautnah miterlebt.]
Beust: … Jene, die grundsätzlich gegen die sechsjährige Primarschule sind, dürfte das trotzdem nicht überzeugen, aber ich hoffe, dass wir damit einen Großteil der bisherigen Reformgegner überzeugen können.
SPIEGEL ONLINE: Droht Hamburger Kindern, Eltern, Lehrer jetzt ein Schulchaos? Der Volksentscheid könnte am 18. Juli stattfinden, wenige Wochen vor der Einschulung am 23. August wie soll das gehen?
Beust: Das geht. Die Vorbereitungen laufen ja nur im Hintergrund. Falls der Volksentscheid, was ich nicht hoffe, erfolgreich wäre, dann könnten die Grundschulen einfach wie bisher weiterarbeiten …
SPIEGEL ONLINE: Früher waren Sie ein glühender Verfechter des dreigliedrigen Schulsystems, so haben Sie es selbst gesagt. Heute treten Sie sehr vehement für längeres gemeinsames Lernen ein. Wo wurzelt Ihre neue Überzeugung, gab es eine Art Erweckungserlebnis?
Beust: Es war ein Prozess, keine Bekehrung. Ich habe mich lange mit Integrationsfragen auseinandergesetzt. Ich bin fest davon überzeugt, dass längeres gemeinsames Lernen für eine gelungene Integration unabdingbar ist …
[Ole von Beust gehörte seinerzeit auch zu den „Jungen Wilden“ der CDU, die den Protest gegen die schreibliche Unfugsreform unterzeichnet hatten. Als einer der ersten setzte er sich wieder ab – ohne Erweckungserlebnis – weil das für seine Karriere hinderlich war.]
SPIEGEL ONLINE: Kann die schwarz-grüne Koalition diesen Zwist aushalten, oder würde sie an einer Niederlage beim Volksentscheid zerbrechen?
Beust: Das ist vor allem für die Grünen schwierig, weil sie ja angetreten sind mit dem Versprechen von neun Jahren gemeinsamen Lernens sechs Jahre waren für sie schon ein Kompromiss. Auf der anderen Seite sieht auch die GAL, dass die Probleme nicht aus Missstimmigkeiten innerhalb der Koalition resultieren. Die Grünen waren es zudem, die verbindliche Volksabstimmungen wollten. Und diesen Preis muss man dann zahlen.
SPIEGEL ONLINE: Also rechnen Sie damit, dass die Grünen diese fiese, fette Kröte am Ende schlucken würden?
Beust: Die muss jeder schlucken, der Volksabstimmungen verbindlich über das politische Meinungsbild im Parlament stellt. Wenn das Volk gesprochen hat, hat es gesprochen.
…
[... und das unter der plebiszitfeindlichen CDU. In Wirklichkeit denken die Parteien alle gleich, nämlich an sich. Auch Heide Simonis (SPD) hatte vor Volksabstimmung gesagt, das Ergebnis müsse „zunächst“ beachtet werden – mit der bewußten Bedeutungsunschärfe zwischen „zuvörderst“ und „vorerst“. – Der Verrat der Grünen in S-H an der „Basisdemokratie“ ist ebenso aktenkundig. ]
spiegel.de 10.2.2010
|