DIE WELT 13.02.1996
Die Rechtschreibreform beschäftigt die Gerichte
Verstoßen die Kultusministererlasse zur Neuregelung der Orthographie gegen die Verfassung? / Von RUDOLF WASSERMANN
Die Sprache, so Theodor Fontane in „Unwiederbringlich, ist das Menschlichste am Menschen. Vorher schon sprach Wilhelm von Humboldt davon, daß der Mensch nur durch die Sprache Mensch ist. An Stimmen, die betonen, daß das Denken an Sprache gebunden und Sprache Teil unserer kulturellen Integrität ist, fehlt es auch heute nicht.
Um so erstaunlicher mutet es an, daß die 1994 auf der Wiener Orthographiekonferenz vereinbarte und 1995 von der Kultus- und der Ministerpräsidentenkonferenz gebilligte Rechtschreibreform zunächst kaum Widerspruch fand. Erst das Aufbegehren des Deutsch-Lehrers Friedrich Denk vom Gymnasium in Weilheim und die von ihm initiierte „Frankfurter Erklärung namhafter Schriftsteller, Verleger und Journalisten haben die Öffentlichkeit wachgerüttelt.
Daß die Kultusminister wegen dieser Proteste auf die Verwirklichung des ihnen von einer Reformkommission angedienten Projekts verzichten, ist allerdings nicht zu erwarten. Denjenigen, die wissen, was es mit dieser vermeintlich unwichtigen Reform auf sich hat, bleibt daher, wenn sie sich nicht mit dem behördlichen Eingriff in die Sprache abfinden wollen, nichts anderes übrig, als die Gerichte anzurufen.
Die Verfassungsbeschwerde des Jenaer Rechtsprofessors Gröschner blieb, da verfrüht, ohne Erfolg. Denn Konferenzbeschlüsse, in denen sich die Repräsentanten der Länder gegenseitig dazu verpflichten, die neuen Rechtschreibregeln als verbindliche Unterrichtsgrundlagen einzuführen, greifen nicht gegenwärtig und unmittelbar in die Grundrechte ein, wie das Bundesverfassungsgericht befand.
Inzwischen haben jedoch in mehreren Ländern wie etwa Rheinland-Pfalz Verwaltungsvorschriften zur Einführung der neuen Rechtschreibregeln bewirkt, daß dort nach den reformierten Regeln unterrichtet wird. Deshalb sind die Betroffenen nicht mehr gehindert, die Verwaltungsgerichte anzurufen. Anhängig sind Verfahren wegen der Rechtschreibreform bei den Verwaltungsgerichten in München, Weimar und Mainz. Die Kläger sind sämtlich die Eltern von Schülern, in München der „Rebell Denk als Vater einer Schülerin. In Mainz ist Prozeßbevollmächtiger der Rechtsanwalt Kopke, der über die Rechtschreibreform eine brillante, in Fachkreisen hochgerühmte juristische Dissertation geschrieben hat.
Die Aussichten der Kläger, von den Gerichten recht zu bekommen, stehen nicht schlecht. Von der Reform betroffen sind nicht nur die Schüler, Lehrer und Verwaltungsbeamten, über die die Exekutive Regelungsgewalt beansprucht, sondern letztlich ist es auch die gesamte Bevölkerung. Unumwunden hat das der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair eingeräumt, als er zu Recht! feststellte, der Konferenzbeschluß regele für viele Jahre, „wie das deutsche Volk schreibt..
Es geht also nicht bloß um eine Lehrplanänderung, für die die Exekutive zuständig wäre, sondern um eine politische Entscheidung von allgemeiner Bedeutung. Solche Entscheidungen aber sind nach der sogenannten Wesentlichkeitstheo-rie des Bundesverfassungsgerichts dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber in einem öffentlichen Willensbildungsprozeß vorbehalten. Es ist die wohlbekannte Arroganz der Macht, wenn hier die Exekutive die Kompetenz über die richtige Schreibweise an sich reißt, anstatt den Parlamenten die Entscheidung zu überlassen.
Es kommt hinzu, daß die Rechtschreibreform auch unverhältnismäßig in Grundrechte eingreift, nämlich in das elterliche Erziehungsrecht aus Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes und in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, welches die Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Hinsicht schützt. Kein geringerer als der renommierte Verfassungsrichter Kirchhof leitet daraus das Recht des Bürgers ab, sich gegen Sprachlenkung und Sprachbeeinflussung zu wehren (so im Handbuch des Staatsrechts Band I). Das gilt auch für die Reform der Schreibweise. Die Parlamente beklagen sich oft über die Aushöhlung ihrer Kompetenzen durch die moderne Rechtsentwicklung. Um so erstaunlicher ist ihr Desinteresse daran, ihre Kompetenz zur Rechtschreibreform gegenüber der Exekutive zu wahren.
Deshalb kann es nicht verwundern, daß Bürger und Bürgerinnen versuchen, neben dem Rechtsweg auch die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung zur Abwehr der Rechtschreibreform zu nutzen. In Bayern werden Stimmen für ein Volksbegehren gesammelt, in Schleswig-Holstein ist das Verfahren der Volksinitiative eingeleitet. Sollten da nicht die Landesparlamente die Materie an sich ziehen und den Eifer der Kultusministerien bremsen, der uns eine Reform auferlegt, die ebenso überflüssig ist wie ein Kropf?
[ Rudolf Wassermann, Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig bis 1990,
1974 bis 1980 Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen.
1976 bis 1990 Präsident des Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamtes,
und Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs.]
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