Vor zehn Jahren: Bildungsministerin kurz vor dem Absturz
Streitgespräch mit Bildungsministerin Gisela Böhrk und Matthias Dräger, Initiator des Volksentscheids
Wie der Norden schreiben soll
LÜBECK In elf Tagen werden die Schleswig-Holsteiner zweimal zur Urne gerufen. Neben der Bundestagswahl wird in einem Volksentscheid darüber abgestimmt, ob die Schüler im Norden weiter nach den neuen Rechtschreibregeln lernen oder nicht. Die Lübecker Nachrichten haben zum Streitgespräch geladen: Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) und Matthias Dräger,
Sprecher der Initiative „Wir gegen die Rechtschreibreform, trafen zum einzigen Mal vor dem 27. September direkt aufeinander. Mit scharfer Zunge wurde argumentiert. Als die Mikrofone schon ausgeschaltet waren, ging das Wortgefecht der beiden Kontrahenten noch eine halbe Stunde weiter. Das Streitgespräch moderierten die LN-Redakteure Jürgen Adamek und Lars Fetköter.
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„Sie benutzen die Kinder! SPD-Bildungsministerin Gisela Böhrk (53) befürchtet, daß Schleswig-Holstein im Falle eines erfolgreichen Volksentscheides zur Rechtschreib-lnsel wird. Die neuen Regeln hätten den Kindern das Schreiben erleichtert.
LN: Herr Dräger, warum lehnen Sie die Rechtschreibreform so vehement ab?
Matthias Dräger:
Weil sie keine Reform ist. Sie vereinfacht nicht, sie ist unlogisch, sie erzeugt neue Schwierigkeiten bei der Schreibung. Diese gravierenden Mängel habe ich Frau Böhrk schon im Oktober 1994 in einem Brief aufgezeigt.
Gisela Böhrk: Die Volksinitiative will ja nicht wissen, ob wir die neue Rechtschreibung gut finden, sondern sie will das Schulgesetz ändern. Falls Sie mit Ihrer Initiative Erfolg hätten, bedeutete dies, daß die Kinder aus Schulbüchern lernen müssen, die bereits fast zur Gänze den neuen Regeln entsprechen, sie diese Regeln aber nicht anwenden dürfen. Schleswig-Holstein würde zur Rechtschreib-Insel, denn kein anderes Bundesland würde zur alten Schreibung zurückkehren. Die Rechtschreibreform ist länger als zehn Jahre vorbereitet worden, und Sie sagen mir, sie hätten mir 1995 geschrieben. Da sind sie mit ihrem Protest zu spät gekommen, und auch die Dichter sind mit ihrem Protest zu spät gekommen. Und dafür sollen jetzt nicht die Verantwortlichen bestraft werden, sondern die Kinder.
Dräger: Der breite Protest gegen die Reform konnte erst losgehen, als die Wörterbücher auf den Markt geworfen wurden. Vorher konnte kein Mensch sagen, was die Reform überhaupt bedeutet. Das sehen Sie auch an den zahlreichen Abweichungen in den versch iedenen Wörterbüchern. Deren Redaktionen hatten ja Probleme, das Regelwerk einheitlich auszulegen.
Böhrk: Wer sich frühzeitig über diese Reform informieren wollte, konnte dies tun. Und die Erfahrung der letzten beiden Jahren zeigt, daß sie den Kindern das Schreibenlernen erleichtert.
Dräger: Aber Lehrer behaupten das Gegenteil. Die Kinder machen wegen der Reform sogar mehr Fehler.
Böhrk: Das ist doch absurd! Wir haben genausoviele Lehrer, die das Gegenteil behaupten.
Dräger: Wir müssen das Schulgesetz erweitern, weil wir die Rechtschreibreform nicht als Einzelfaktor angehen können.
Böhrk: Dafür benutzen Sie die Kinder.
Dräger: Wenn wir nur diese Reform per Gesetz stoppen wollten, könnte es uns passieren, daß die Kultusminister uns in fünf oder zehn Jahren die nächste Rechtschreibreform vorsetzen wollen. Davor wollen wir Kinder und Erwachsene schützen.
Herr Dräger, Sie sagen doch selbst, daß diese Reform Fehler hat. Warum sollten wir die nicht in einer weiteren Reform in zehn Jahren ändern?
Dräger: Meine Angst vor einer neuen Reform ist gar nicht weit hergeholt. Heide Simonis hat selbst gesagt, daß der Landtag das Votum des Volkes korrigieren könnte.
Frau Böhrk, was passiert, wenn der Volksentscheid Erfolg hat?
Böhrk: Dann wird die Ministerpräsidentin das Gesetz unterzeichnen. Es wird nach drei bis vier Wochen in Kraft treten. Das bedeutet, daß die neue Rechtschreibung nicht mehr gelehrt wird.
Dräger: Im Augenblick lernen die Kinder eine Rechtschreibung, die in der Bevölkerung nicht üblich ist.
Böhrk: Aber der Umstellungsprozeß ist überall im Gange...
Herr Dräger, was machen Sie, wenn die Wähler am 27. September entscheiden, daß die Kinder die neue Rechtschreibung erlernen sollen?
Dräger: Die Initiativen in anderen Bundesländern machen weiter. Zudem stehen noch Klagen ins Haus. Wenn Erwachsene erstmal gezwungen werden, die neue Rechtschreibung anzuwenden, wird es weitere Verfahren geben.
Frau Böhrk, wenn die Reform gekippt wird: Haben Sie einen Plan in der Schublade, mit dem eine Rechtschreib-lnsel im Norden dennoch verhindert werden kann?
Böhrk: Wir zerbrechen uns in der Tat den Kopf darüber, wie wir den Schaden von Kindern abwenden könnnen. Aber es gibt eine solche Möglichkeit nicht. Wenn der Gesetzentwurf so beschlossen wird, muß er umgesetzt werden ...
Der nächste Landtag kann das Gesetz wieder ändern.
Böhrk: Natürlich kann jedes Gesetz wieder geändert wer den. Aber wir können doch nicht Volksinitiativen ad absurdum führen, indem wir jedes Gesetz, das uns mißfällt, wieder ändern. Jetzt möchte ich aber Sie mal etwas fragen, Herr Dräger: Kein Erwachsener braucht nach der Rechtschreibreform anders zu schreiben als bisher. Auch die Herren Grass und Lenz können so weiterschreiben wie bisher. Nur die Kinder erlernen einfachere Schreibweisen. Hier geht es doch einfach um die Frage: Wie tolerant sind die Erwachsenen den Kindern gegenüber?
Dräger: Wenn wir schon bei
Toleranz sind: Was sagen Sie denn dazu, daß 70 Prozent der Erwachsenen diese Reform nicht wollen?
Böhrk: Aber die können doch weiter schreiben wie bisher.
Es sei denn, sie sind Beamte, und es kommt ein Erlaß über die Amtssprache. Oder sie sind Redakteure. Aber die Dichter dürfen weiterhin schreiben wie sie wollen. Im übrigen sind der Bundeselternrat, die meisten Landes-Elternvertretungen, die Landes-Schülervertretung und die Bundes-Lehrerverbände für die Reform.
Frau Böhrk, sind Sie denn glücklich darüber, wie der Stimmzettel jetzt aussieht? Wir werden jeden Tag von Briefwählern angerufen, die an dem komplizierten Ding verzweifeln.
Böhrk: Der Text der Volksinitiative ist ja schon sehr kompliziert. Der Punkt zwei ist die Alternative, die der Landtag beschlossen hat. Wir sagen da, daß als allgemein üblich jene reformierte Rechtschreibung gilt, die für alle übrigen Länder in den Schulen verbindlich ist.
Dräger: Was da steht, entspricht nicht der Wahrheit: Da steht, in den Schulen wird die allgemein übliche deutsche Rechtschreibung unterrichtet. Aber die allgemeine Rechtschreibung ist nicht die reformierte. Da schauen Sie sich doch mal an, wie das, was wir hier sagen, in der Zeitung geschrieben wird...
Aber wir reden doch über die Rechtschreibung in den Schulen ...
Dräger: Nein, wir reden über Rechtschreibung.
Böhrk: Herr Dräger, Sie reden tatsächlich über Rechtschreibung, und sie benutzen die Kinder. Ich rede über Schulen, weil die das Ziel ihrer Initiative sind.
[Abbildung: Verwirrender Stimmzettel]
Lübecker Nachrichten v. 16.9.1998
[Der erfolgreiche Volksentscheid wurde nach nicht einmal einem Jahr durch ein Parteienkomplott im Kieler Parlament annulliert. Der Wille des Volkes hatte schulisch nur 9 Monate Gültigkeit – vom 10.12.98 bis zum 21.09.1999. Nach sechs Jahren brachen große Teile der Unfugsreform dennoch zusammen – aber nicht wegen demokratischer Regungen der Politiker, sondern weil der ausgestiegene Springer-Konzern „zurück ins Boot“ sollte.]
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