Vor zehn Jahren – Juli 1999 im Holsteinischen Courier
Rühe und Kayenburg wollen „die neue Lage akzeptieren
Schreibreform:
Die CDU kippt um
KIEL (har). Die Einführung der neuen Rechtschreibregeln an Schleswig-Holsteins Schulen rückt schlagartig näher. Die CDU, eigentlich Verfechterin der alten Regeln, rückte gestern überraschend deutlich von ihrer Haltung ab.
Der CDU-Spitzenkandidat Volker Rühe und der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Martin Kayenburg, begründeten die Entwicklung damit, daß „vor allem im Interesse der Kinder die neue Lage akzeptiert werden müsse. Sie verwiesen auch auf das Scheitern der Reformgegner in Berlin.
Die Reaktionen auf die Kehrtwende reichten von „heuchlerisch bis „überraschend. Kultusministerin Ute-Erdsiek-Rave (SPD) erklärte, daß die CDU bei ihr „offene Türen einrenne. Erst am 27. September 1998 hatten sich die Schleswig-Holsteiner gegen die neue Rechtschreibung ausgesprochen.
Die Bürgerinitiative „Wir gegen die Rechtschreibreform warnte gestern davor, den Volkswillen zu ignorieren, und drohte mit dem Gang vor ein Gericht.
S. 7, Kommentar S. 2
Holsteinischer Courier 10.07.1999
[Wir gutgläubigen Demokraten ahnten damals nicht, daß eine Verfassungsklage in Schleswig-Holstein trickreich unterbunden war und eine Sachklage erst neun Jahre später bearbeitet werden würde, wobei das Gericht aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1998 „Narrenfreiheit für die Kultusminister“ herauslas.]
S. 2 Kommentar
Mißachtung des Volkes
VON KLAAS HARTMANN
Herzlichen Dank. Wer schon immer daran gezweifelt hat, daß die Stimme des Volkes etwas zählt, darf sich seit gestern in dieser Haltung bestärkt fühlen. Da spricht sich die Mehrheit der Bürger eines Bundeslandes für ein Gesetz aus, und nicht einmal ein Jahr später sind sich die Parteien im Landtag darüber einig, daß der Wille des Wahlvolkes einer Korrektur bedarf. Denn der gemeine Umengänger ist ja zu dumm, die Tragweite seiner Stimmabgabe zu überblicken. Sonst wäre er schließlich nicht Wähler, sondern Gewählter – sprich: Abgeordneter. Mag es zur Rechtscheibreform viele Argumente dafür und dagegen geben: Die Schleswig-Holsteiner haben sich für eine Richtung entschieden. Ein Jahr nach der Entscheidung dieselbe kippen zu wollen, ist eine unerträgliche Mißachtung des Souveräns im Land. Und das ist noch immer der einfache Bürger.
Holsteinischer Courier 10.07.1999
Lesermeinung
Wir sind das Volk
Zu: „Die Willkür der Mächtigen vom 20. Juli.
Unabhängig von meiner persönlichen Einstellung zur Rechtschreibreform ist der „Salto rückwärts der CDU in dieser Sache eine schallende Ohrfeige für alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Wieder einmal wird deutlich, wie wenig vertrauensvoll PolitikerInnen sind und wie hemmungslos Volkes Wille der Parteitaktik geopfert wird.
Die CDU sollte in Bonn in einem interfraktionellen Antrag für eine Verfassungsänderung eintreten mit dem Ziel, Artikel 20 Abs. 2, des Grundgesetzes wie folgt zu ändern: „Alle Macht geht von den Parteien aus; oberster Entscheidungsträger ist der jeweilige Vorsitzende und/oder Spitzenkandidat. Dabei sollte dann aber auch in der Verfassung verankert werden, daß Politiker zukünftig nicht mehr aus Steuermitteln zwangsbezahlt werden müssen.
Die zitierten Äußerungen des Herrn Geerdts sind im übrigen falsch. Berlin und Bremen konnten nicht mitziehen, weil die Initiativen dort von Politik und Verwaltung ausgebremst worden sind, wie dies ja auch in Schleswig-Holstein versucht worden ist. Eine Insellösung wäre gar nicht erst entstanden, wenn die CDU, aber auch die anderen Parteien sich an das eigene Wort halten würden. So hat der damalige stellvertretende Vorsitzende CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rupert Scholz, am 13. Juli 1998 gesagt: „Es sind letztlich die Bürger von Schleswig-Holstein, die in einer Volksabstimmung über die Einführung der Reform entscheiden. Votieren sie dagegen, ist die Reform tot. Der frühere SPD-Generalsekretär Franz Müntefering sagte bereits am 14. August 1997: „Sollte ein Bundesland ausscheren, ist die Reform gescheitert. Und die Kultusministerkonferenz beschloß am 25. März 1997, daß es einen Sonderweg nicht geben könne.
Die Bürger des Landes haben sehr deutlich entschieden, trotzdem lebt die Reform weiter. Warum wohl? Vielleicht begreift die CDU eines Tages, daß sie mit diesem Beschluß dem Demokratieverständnis schwer geschadet hat, und vielleicht erlebe ich noch den Tag, an dem die Mehrheit der Menschen dieses Landes in Kiel vor dem Landeshaus skandiert: „Wir sind das Volk.
Rüdiger Wefers, Birkenweg 59
Holsteinischer Courier 23.07.1999
Streit in der CDU wegen der Rechtschreibung
Junge Union:
Die Willkür der Mächtigen
VON CHRST1NA KRUMM
Die Rechtschreibreform sorgt abermals für Streit in den Reihen der CDU. Für den Sinneswandel ihrer Mutterpartei, die den Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein nun wieder kippen will, hat die Junge kein Verständnis.
„Der Wille des Bürgers kann doch nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden, empört sich Marco Thies, Kreisvorsitzender der Jungen Union. Schon beim Volksentscheid im September 1998, bei dem sich die Mehrheit der Schleswig-Holsteiner gegen die neuen Rechtschreibregeln ausgesprochen hatte, war die Meinung innerhalb der CDU geteilt gewesen. Die Korrektur des Entscheids sorgt nun abermals für Zoff.
Vor allem die jungen Christdemokraten sind enttäuscht „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus so steht es im Grundgesetz, betont Thies. Doch dieser Grundsatz werde von der Landesregierung derzeit mit Füßen getreten. Besonders enttäuscht sei er von der CDU, da gerade sie vor und nach dem Volksentscheid betont habe, daß der Wille des Volkes respektiert werden müsse. Zwar gebe es gute Gründe für die Einführung der neuen Regeln, aber man könne nicht einfach „die Willkür der Mächtigen herauskehren, so Thies.
Zwar räumte auch der CDU-Kreisvorsitzende Torsten Geerdts „einen Erklärungsbedarf ein, wies die Kritik seines Partei-Nachwuchs jedoch scharf zurück: „Wir haben schon immer gesagt, daß wir keine Insellösung wollen. Nachdem Berlin und Bremen nicht mitzögen und eine bundesweite Lösung nicht mehr in Sicht sei, sehe sich die CDU zu diesem Schritt gezwungen. Lange habe man in der Fraktion diskutiert und am Ende ein einstimmiges Votum erzielt. Geerdts: „Wir wären genauso kritisiert worden, wenn wir die Kurskorrektur nicht vorgenommen hätten.
Doch Thies befürchtet einen großen Imageverlust der Opposition im Landtag: „Vielleicht merken die Parteien ja auch mal, daß sie von den Bürgern und durch die Bürger leben.
Holsteinischer Courier 20.07.1999
Lesermeinung
Das ist Heuchelei
Zum Artikel „Schreibreform: Die CDU kippt um vom 10. Juli.
Was ist die Demokratie in Schleswig-Holstein noch wert? Herr Rühe ist kein Landtagsabgeordneter. Er maßt sich trotzdem an, den Willen von 888 000 Wählern mißachten zu können. Herr Rühe sollte sich mal wieder mit dem Grundgesetz befassen, vielleicht kennt er die Artikel 20 und 21 nicht mehr? Gott bewahre Schleswig-Holstein vor einem Ministerpräsidenten Rühe.
Nun war in den Nachrichtensendungen von Frau Erdsiek-Räve zu hören, daß die Reform zwar schlecht sei, aber trotzdem eingeführt werden müsse. Welche Heuchelei wird dem Wähler hier zugemutet? …
Peter Dietrich
Holsteinischer Courier 28.07.1999
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