Rechtschreibreform – seit 1996 wichtiger als Lehrqualität
Der Ärger mit Schulbüchern
Eltern und Staat geben viel Geld für Schulbücher aus – doch niemand prüft, ob die schöne Didaktik zwischen Buchdeckeln auch beim Schüler ankommt.
Lernforscher beklagen, dass viele Schulbücher mangelhafte Inhalte haben
Ein gutes Schulbuch erklärt jungen Menschen die Welt – ein schlechtes stellt sie auf den Kopf. Im Jahr 2007 testete die Stiftung Warentest 17 Biologie- und Geschichtsbücher. Das Ergebnis fiel verheerend aus: Jedes Buch war fehlerbehaftet. Die Tester stolperten über fehlende Bildunterschriften und sprachliche Schnitzer. ….
Umkämpfter Markt
„Es gibt schlichtweg kein fehlerfreies Schulbuch“, sagt Verena Radkau-Garcìa vom Schulforschungsinstitut GEI. Der Schulbuchmarkt ist eng und heiß umkämpft: Sinkende Umsätze machen der Branche ebenso zu schaffen wie Bildungsreformen [unterschlagen: Rechtschreibreformen] und immer neue Fachlehrpläne, die schnellstmöglich ihren Weg ins Schulbuch finden müssen. Hinzu kommt: Autoren sind meist Lehrer und verfügen nicht immer über neues Fachwissen.
Fehler sind deshalb programmiert. Zwar muss jedes Buch vor Verkaufsstart die Zulassungshürde der Kultusministerien passieren. Die meisten Schulbehörden prüfen aber nur stichprobenartig auf formale Kriterien wie Lehrplan- und Verfassungstreue [… und die Befolgung der Reform-ss]. …
„Nur über die Lehrer erfahren wir, wenn Schüler mit Aufgaben nicht zurecht kommen“, sagt Ann-Kristin Hötte. Niemand weiß, ob aktuelle Lernbücher Kindern beim Lernen nützen. …
Dabei wissen Kinder sehr genau, wie ein gutes Schulbuch aussehen sollte. Nina, 7, liebt ihr „Lies mal!“-Arbeitsheft wegen seiner Schlichtheit: „Endlich kann ich mal alles selbst machen.“ … Sebastian, 11, dagegen hasst die gelben Kästen in seinem Deutschbuch: „Da stehen immer Grammatikregeln drin, die keiner versteht.“
… Die Münchner Verhaltenstherapeutin Uta Streit hört Schülern genau zu. Seit 25 Jahren hilft sie ihnen, Lernprobleme zu überwinden. Dass Schüler in Mathe oder Deutsch versagen, lastet sie auch Schulbüchern an: „Es gibt derzeit kaum Werke, die bei der Frage, wie Kinder lernen, die Ergebnisse der experimentellen Lernforschung berücksichtigen.“
Wenn die Psychologin Recht hat, und vieles spricht dafür, folgen fast alle Unterrichtswerke einem Muster: Immer geht es darum, kreatives Denken zu schulen und stures Auswendiglernen von Lösungswegen aus Lernbüchern und -heften zu verbannen. Was sich zunächst anhört wie ein Befreiungsschlag gegen dumpfe Nachkriegspädagogik, erweist sich besonders für schlechte Schüler als fatal.
Verwirrende Aufgaben
Beispiel Mathematik, 2. Klasse: Auf knappen vier Seiten führen Rechenbücher den neuen Zahlenraum bis 100 ein. Erst müssen die Kleinen über komplizierten Arbeitsanweisungen brüten, dann verwirren unterschiedliche Aufgabentypen: Mal sollen sie rote Punkte in Zehnerreihen abzählen und Münzwerte schätzen, mal Zahlenzettel ausfüllen, die an einer Wäscheleine hängen. Für gute Schüler ist das kein Problem. Schwache Lerner aber gehen durch die Hölle. „Die vielen ungeordneten Informationen behindern ihr Denken und überfordern sie“, erklärt Uta Streit die Not. Spätestens jetzt schalten die meisten ab und lassen sich bereitwillig von niedlichen Maskottchen ablenken, auf die kaum ein Mathebuch verzichtet. Wenn zum Schluss noch ein Bild ausgemalt werden muss, ist besonders bei Jungs der Frust perfekt.
Dabei wäre alles so einfach. Schulbücher könnten besser gestaltet sein, wenn Autoren und Verlage sich an einfache Erkenntnisse der Gehirnforschung hielten, ist Streit überzeugt. …
Erkenntnisse aus der Verhaltenstherapie
Zusammen mit dem Verhaltenstherapeuten Fritz Jansen und der Sonderschulpädagogin Angelika Fuchs hat Uta Streit vor einigen Jahren das „IntraActPlus“-Konzept entwickelt und die Lesefibel „Lesen und Rechtschreiben lernen“ veröffentlicht...
Von der Buchidee ins Klassenzimmer
Ein Langwieriger Prozess: Bis ein Schulbuch seine Zielgruppe erreicht, dauert es Jahre. Kultusministerien und Lehrer entscheiden, bei welchem Verlag geordert wird.
Rahmenplan des Kultusministeriums: 3000 Lehrpläne für jedes Fach und Bundesland geben den verbindlichen Rahmen für jedes Schulbuch vor. Sie diktieren Lernziele und -inhalte. Wie der Lernstoff vermittelt werden soll, entscheiden Verlage frei. …
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focus.de 27.04.2010
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