Re: Re: Immer noch unangenehm
Zitat: Ursprünglich eingetragen von glasreiniger
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Sigmar Salzburg
Die Auseinandersetzung um Vietnam löste auch die 68-Bewegung aus und förderte damit die Rechtschreib„reform“.
Daß die 68-Bewegung die Rechtschreibreform gefördert hätte, ist mir nicht ersichtlich. IMHO handelt es sich um eine Panikreaktion im innerdeutschen Verhältnis, die sich nach der Wiedervereinigung als lose Kanone verselbständigt hat.
Ich erinnere mich an etliche Verlautbarungen aus Revoluzzerkreisen in Kleinschreibung. Die Frage und eine Erklärung finde ich hier:
Wieso schrieb die RAF (oder zumindest die 1. Generation) alle ihre Erklärungen klein? (19.04.2005)
Dies geht vermutlich auf Gudrun Ensslin zurück, Laut Koenens Buch »Vesper, Ensslin, Baader«, war Kleinschreibung damals ein literarischer Trend, den Ensslin schon in prä-RAF Zeiten praktizierte. (14.11.2006)
rafinfo.de
Die Rechtschreibreform, d.h. vor allem die Kleinschreibung, geht auf zwei Stränge zurück: Die Altdeutschen, z.B. Jacob Grimm, ursprünglich auch Revoluzzer, wollten vereinfacht wie im Mittelalter schreiben, die Linken wollten die Vereinfachung für die Arbeiter und gegen das Establishment. Zuletzt Wernstedt (SPD):
Der niedersächsische Kultusminister Rolf Wernstedt wäre in den siebziger Jahren mit seiner Auffassung, daß mit der Reform „das Herrschaftsinstrument Orthographie, mit dem wirklich Bedrückung betrieben werden kann“, abgebaut werde, gar nicht weiter aufgefallen. (Heide Kuhlmann)
In den Zwanziger Jahren war Kleinschreibung Mode. Hitler meinte damals gar, damit tonnenweise Blei sparen zu können. Stefan George, gustaf nagel und Bert Brecht schrieben klein:
Brecht hingegen lernte gern von [dem österr. Schriftsteller Arnold] Bronnen. So übernahm er, Bronnen zufolge, das aparte t, mit dem Bronnen seinen Vornamen Arnold in Arnolt verwandelte, und schrieb sich künftig Bertolt; außerdem eignete er sich Bronnens Kleinschreibung ohne Satzzeichen an.
Das Ergebnis solcher Manipulationen las sich in Brechts Briefen so:
lieber arnolt
an meiner wiege haben sie mir ein chanson gesungen / rothäute behandelten meinen skalp als abortpapier / zwischen weidenweibern in graugrünen dämmerungen / kam ich oft auf mich zu als ein haariges ozeantier / (ozeantier!) / in den städten grassierte damals die civilis / den affen fielen die haare aus und sie wurden versöhnlich / man rauchte las zeitung trank cognac schlief schiß / machte den himmel zu und wurde gewöhnlich / ...
spiegel.de 11.1.1961
Jakob Augsteins linke Postille echauffierte sich 2000 über den Ausstieg der FAZ aus der „Reform“ und erinnerte an ähnliche Vorhaben der DDR, (die dann Anfang der Siebziger bei Willy Brandts „Wandel durch Annäherung“ in die gemeinsame Reformkommission mündeten):
Gerade 45 Jahre ist es her, da tobte in der DDR ein ähnlicher Kampf. In der Wochenpost Nr. 2, 1955, veröffentlichte Prof. Dr. Wolfgang Steinitz unter dem provozierenden Titel »geht es um libe?« seine »Gedanken zur Reform der deutschen Rechtschreibung«, und schon damals fühlten sich auch die Dichter herausgefordert. »ich bin gegen eine reform der rechtschreibung von solchem ausmass«, schrieb Bertolt Brecht, »dass alle die bücher, die auf die alte weise gedrukkt sind, schwer lesbar werden. die grossen buchstaben sollte man aber nur für namen und für die fürwörter in der anrede verwenden. (auch für den satzanfang nicht; da genügt der punkt und ein abstand.) liebe darf man nicht libe schreiben und toll nicht tol. razion liest sich für mich nicht übel, aber razio geht nicht und nazion ist undenkbar, da habe ich einen schokk bekommen. lassen wir also lieber auch die rationen.«
Schokk beiseite: Die nazion hat auch diesen Anschlag überstanden. Und für die einzig vernünftige und hilfreiche Rechtschreib reform: die gemäßigte Kleinschreibung nämlich, waren die Kultusminister sowieso zu feige.
freitag.de 4.8.2000
Die linken Lehramtsstudenten begannen ab 1968 ihren Marsch durch die Institutionen und trafen in Schulen, Ministerien und GEW-Sektionen auf die übriggeblieben Altreformer.
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