Was ist Zeit?
Der Jahreswechsel regt an, darüber nachzudenken. Zeit entsteht durch das Nacheinander von Ereignissen. Man schätzt den Abstand nach evolutionär ererbtem Zeitgefühl. Messen kann man ihn nur durch gleichmäßig wiederkehrende Ereignisse. Den in Äquatorial-Afrika durch einen genetischen Unfall denkfähiger gewordenen Urmenschen wird der Tag als Zeiteinheit allmählich bewußt geworden sein. Für den auf die Nordhalbkugel der Erde ausgewanderten Teil wurde auch die Beachtung der Jahreszeiten lebensnotwendig, wie das Zählen der Tage auf Mammutknochen beweist.
Die Beobachtung der Bewegung der Gestirne erreicht, unterstützt durch die Erfindung der Schrift, in Sumerien und China einen ersten Höhepunkt. Die griechischen Philosophen beschäftigen sich ausgiebig mit dem Phänomen Zeit. Die Astronomen kommen durch Nachdenken und Nachrechnen auf die Kugelgestalt der Erde und den Verdacht, die Sonne könnte das Zentralgestirn der Planeten sein. Zugleich taucht die Hypothese auf, es könnte kleinstmögliche Teile der Materie geben.
Gegen Ende dieser etwa 900jährigen Epoche denkt auch der gott- und schreibsüchtige Augustinus von Hippo über die Zeit nach:„Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es einem erklären will, der danach fragt, weiß ich es nicht. “ (Augustinus Liber XI, Caput XIV) Und er kommt auf einen vernünftigen Gedanken: Um die Zeit zu verstehen, muß das zeitliche Nacheinander in ein räumliches Nebeneinander umgewandelt werden, das beliebig abgegriffen werden kann. Anfänglich ging das durch eine Folge von Bildern, durch Schriftzeichen und schon immer durch die auch heute noch nicht verstandene Abspeicherung im Gehirn. Die sieht er natürlich geistlich, aber er kommt doch der Sache recht nahe. Der Physiktheoretiker Carlo Rovelli schreibt in seinem Buch „Die Ordnung der Zeit“:Im Elften Buch, Kapitel 12 seiner Bekenntnisse stellt sich Augustinus Fragen nach der Natur der Zeit und präsentiert eine scharfsinnige Analyse unserer Möglichkeiten, Zeit wahrzunehmen (allerdings unterbrochen von missionarischen Deklamationen, die ich ziemlich lästig finde). Er stellt fest, dass wir uns stets in der Gegenwart befinden, weil die Vergangenheit vergangen und damit ebenso nichtexistent ist wie die Zukunft, die erst noch kommen muss... Hier und jetzt sind weder Vergangenheit noch Zukunft. Wo sind sie? Augustinus‘ Schlussfolgerung lautet, dass sie in uns liegen:In dir, mein Geist, messe ich die Zeiten; entgegne mir nicht: Wieso das? Lass dich nicht durch die Menge deiner Vorurteile verwirren. In dir, ich sage es dir nochmals, messe ich die Zeiten; der Eindruck, den die vorübergehenden Dinge auf dich machen, bleibt auch, wenn sie vorübergegangen sind, und ihn messe ich, wenn ich die Zeiten messe. Es ist also entweder [der Geist] selber die Zeit, oder es ist nicht die Zeit, die ich messe. Der Gedanke ist überzeugender, als er beim ersten Lesen erscheinen mag. Wir können sagen, dass wir die Zeitdauer mit einer Uhr messen. Aber dazu müssen wir die Uhr zu zwei verschieden Zeitpunkten ablesen. Das ist unmöglich, weil wir uns immer in einem einzigen, niemals in zwei Momenten finden. In der Gegenwart sehen wir nur Gegenwart. Wir können Dinge sehen, die wir als Spuren der Vergangenheit deuten, aber zwischen Spuren der Vergangenheit sehen und den Ablauf der Zeit wahrnehmen besteht ein grundlegender Unterschied. Und Augustinus erkennt, dass der Unterschied dieses Ursprungs, das Bewusstsein vom Vergehen der Zeit, in unserem Innern liegt. Er ist Teil des Geistes. Es sind Spuren, welche die Vergangenheit im Gehirn hinterlassen hat.
Augstinus‘ sehr schöne Erörterung stützt sich auf die Musik. Wenn wir eine Hymne hören, wird das Klangerlebnis von den vorangegangenen und den nachfolgenden Tönen erzeugt. Musik hat nur in der Zeit ihren Sinn, aber wenn wir zu jedem Moment in der Gegenwart stehen, wie können wir diesen Sinn dann erfassen? Dies sei deshalb so, bemerkt Augustinus, weil sich unser Bewusstsein auf das Gedächtnis gründet und auf die geistige Vorwegnahme gründet. Die Hymne oder ein Lied sind gleichsam in unserem Geist in einheitlicher Form präsent, zusammengehalten von etwas, das für uns die Zeit ist. Also ist das die Zeit: Sie liegt vollständig in der Gegenwart, in unserem Geist als Erinnerung und als Vorwegnahme. In der Renaissance erhält das Nachdenken über die Zeit einen neuen Schub. Kopernikus entdeckt das heliozentrische System neu. Es wird durch Kepler 1609 und Newton 1679 einer mathematischen Berechnung zugänglich, wobei die Zeit eine wichtige Rolle spielt und Newton die gegenseitige Anziehungskraft aller Massen entdeckt. Olaf Römer erkennt 1676 die endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts an Zeitverzögerungen des beobachteten Umlaufs der Jupitermonde.
Die Erforschung des Elektromagnetismus seit dem 13. Jahrhundert gipfelte in Maxwells Gleichungen 1864. Der Versuch um 1890, die Erdbewegung (29 km/sec) in der Verringerung der Geschwindigkeit vorausgesandten Lichtes zu erkennen, scheitert: Wir sind selbst Bestandteil dieses heute als Raum von Feldern verstandenen Mediums.
Nach Einstein 1905 müssen Newtons Gesetze der Mechanik denen Maxwells angeglichen werden. Am besten geht man von der Vorstellung aus, alle Bewegung müßte letztlich auf eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Energie zurückgeführt werden, die der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum gleicht.
Die einfachste graphische Darstellung ist die einer waagrechten Raumachse und einer senkrechten Zeitachse, die einen ruhenden Punkt zu verschiedenen Zeiten symbolisiert (Minkowsky). Die Lichtgeschwindigkeit wird gleich eins gesetzt. Ein lichtschnell bewegter Punkt erscheint dann in der Graphik als eine um plusminus 45 Grad von der Senkrechten abweichende Linie.
Nun wird eine Schwingung eines ruhenden „Raum-Zeit-Atoms“ konstruiert: Vom Nullpunkt soll jetzt in beide Richtungen mit Lichtgeschwindigkeit je ein Wirkungspunkt ausgehen, beide sollen zur gleichen Zeit die Richtung wechseln und mit gleicher Geschwindigkeit auf der Zeitachse wieder zusammentreffen. Das Bild zeigt ein auf der Spitze stehendes Quadrat mit maximaler Breite, genauer Zeitdauer und einem definierten Flächeninhalt.
Will man nun ein sich langsam nach rechts bewegendes Teilchen darstellen, so muß die Zeitachse ein wenig nach rechts geneigt werden. Behandelt man den Flächeninhalt als Erhaltungsgröße, so liegt der neue Endpunkt auf einer Hyperbel, und das „Raum-Zeit-Atom“ wird ein flächengleiches Rechteck.
Ein weiterhin ruhender Beobachter stellt daran eine Verlangsamung der Schwingung fest und eine Abnahme der Breite, wenn er durch die äußeren Endpunkte die Parallelen zur bewegten Zeitachse zieht. Ein mitbewegter Beobachter, dessen Systeme gleichermaßen mitdeformiert werden, spürt davon nichts.
Vor allem hält er seine nun ungleichzeitig liegenden äußersten Umkehrpunkte für gleichzeitig. Die Verbindungsgerade zwischen den beiden Umkehrpunkten ist nun eine Linie oder, zweidimensional erweitert, eine Ebene der Gleichzeitigkeit des bewegten Systems. Es muß also nicht nur die Zeitachse, sondern auch die Raumachse (entgegengesetzt) gedreht werden.
Lichtsignale, die vom Anfang und Ende eines fahrenden Zuges vermeintlich gleichzeitig ausgesandt werden, kommen bei einem ruhenden Beobachter nicht gleichzeitig an. Wegen der hohen Lichtgeschwindigkeit oder besser Wirkungsgeschwindigkeit, denn in Materie kann das Licht durchaus abgebremst werden, sind diese Verhältnisse vor Einstein nicht erkannt worden.
Die Quantentheorie arbeitet mit einer Überlagerung ¹) verschiedener Räume von Gleichzeitigkeit, so daß am Ende Aufenthaltswahrscheinlichkeiten herauskommen können. Nach Rovelli u.a. zeigen die Naturgesetze im Kleinen keine Zeitrichtung. Die entsteht erst durch die Entropie, das heißt durch die zunehmende Gleichverteilung von Unordnung in Vielteilchensystemen.
¹) Steven Weinberg erwähnt, er habe einmal erfolglos versucht, von dem (merkwürdigen) Prinzip der linearen (additiven) Überlagerung in der Quantentheorie abzuweichen. Das zeigt n.m.M., daß die QT teilweise keine Wirklichkeit beschreibt.
Bearb. 1.9.19
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