Chirurgisch genau
Chirurgisch genau
Wie Dieter E. Zimmer den Murks und das Chaos der Reformtollpatsche erläutert, kritisiert und vorsichtig repariert... ...und daraus eine mißraten-akzeptable ZEITSchreibung bastelt
von Helmut Jochems, Littfeld
Seit dem 10. Juni 1999 erscheint DIE ZEIT in umgestellter Orthographie als erste große deutsche Zeitung und ohne dem Zwang zu unterliegen, den die Nachrichtenagenturen ab 1. August 1999 auf die von ihnen abhängigen Regional- und Lokalzeitungen ausüben werden. Nun weiß man, was Dieter E. Zimmer in den langen Monaten seines Schweigens zur Rechtschreibreform getrieben hat: Gebastelt hat er, und zwar an einer Revision des auch in seinen Augen mißratenen Mannheim-Wiener Regelwerks, von dem er aber schon vor fast zwei Jahren sagte, es sei trotz allem akzeptabel. Nun ist Zimmer nicht der erste, der sich daran macht, den Augiasstall auszumisten. Um die Jahreswende 1997/98 setzte sich Gerhard Augst mit seiner Zwischenstaatlichen Kommission an die Spitze der Revisionisten und fand zunächst sogar Beifall bei den Kultusministern. Als aber die Schulbuchverlage mit Schadenersatzforderungen droh-ten, wurde der KMK schnell klar, daß nach den vielen vorangegangenen Reformkompromissen ein weiterer gefunden werden mußte: Bis 2005 ändert sich nichts, dann aber kommt, wie auch das Bundesverfassungsgericht im Sommer 1998 andeutete, die von der Rechtschreibkommission als unumgänglich notwendig bezeichnete Generalrevision.
Teilrevisionen haben inzwischen die Arbeitsgruppe der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen und die Gruner+Jahr-Rechtschreib-Kommission vorgenommen, vom neuen Regelwerk der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung aus dem Computer von Peter Eisenberg ganz zu schweigen. Sie alle lassen Augsts belämmerte Gämsen und Kängurus unge-schoren und schlucken natürlich auch die vielen neuen ss-Schreibungen, legen sich aber bei drei Regelgruppen quer: Es bleibt bei den traditionellen Fremdwortschreibungen, die Kommaregeln werden nicht angetastet, und die urkomischen Silbentrennungen der Reformer überläßt man den Schulen und den Behörden. In diesen Punkten zieht Dieter E. Zim-mers ZEITSchreibung selbstverständlich mit, wie er auch das Schwarze Brett aus der Reformversenkung zurückholt und dafür den Spinnefeind und es tut mir Leid auf den seit Eisenbergs Zornesausbruch sprichwörtlichen Recht-schreibmüll befördert. Mit welch spitzen Fingern der Rechtschreibexperte der ZEIT das Machwerk anfaßt, ergibt sich schon aus dem ersten Satz seines Prologs:
Die ZEIT stellt ihre Schreibweise in dieser Woche um. Im August werden es die Nachrichtenagenturen tun, und dann wird ein Großteil der Presse in neuer Orthografie erscheinen. Sehr wahrscheinlich wird die Presse dabei die Erfahrung machen, dass sich nicht alle neuen Regeln für ihre Zwecke eignen. Sie ist eben eine Schulorthografie und durfte gar nichts anderes sein, bedacht ausschließlich auf leichtere Erlernbarkeit. Eine fürs Leben bestimmte Orthografie 2000 hätte nirgends Ausdrucksverluste hinnehmen dürfen, hätte dem vermehr-ten Kontakt des Deutschen mit anderen Sprachen und dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass das uni-versale Schreibgerät zunehmend der Computer ist. (DIE ZEIT 24/1999, S. 1)
Im Grunde wiederholt Zimmer hier nur eine Einschätzung der Rechtschreibreform, zu der er schon 1997 gelangt war. Nun setzt er aber doch einige Akzente genauer:
Eine Rechtschreibung 2000 hätte erstens eine systematische und hierarchische Durchmarkierung sämtlicher Varianten enthalten müssen (Haupt-/Nebenvariante, Alte/Neue Schreibung, Ursprungsschreibung/Einge-deutschte Schreibung usw.), um ihre Handhabung in der Textverarbeitung zu erleichtern; zweitens klare und produktive, also auch auf neue Fälle anwendbare Regeln für die Schreibung der immer zahlreicheren Fremd-wörter, insbesondere englischer Wortgruppen; und es hätten drittens keine der wenigen von der Rechtschrei-bung bisher gebotenen Ausdrucksdifferenzierungen preisgegeben werden dürfen. Die vorliegende Adaption der Neuregelung ist auch ein Versuch, frühzeitig die Problemzonen zu erkennen, bei denen die Printmedien die Neuregelung wahrscheinlich für ihre Zwecke untauglich finden und nicht mitmachen werden, und den zu erwartenden Verlegenheiten vorzubeugen. Sie will niemandem die Entscheidung abnehmen, was er in Zukunft wie schreiben soll. Aber durch die Art der Aufbereitung des Materials will sie die Leser instand setzen, diese Entscheidungen selber zu treffen. (DIE ZEIT 24/1999, S. 37)
Hier verschweigt Zimmer freilich bescheiden, daß er aktiv in das Regelwerk eingegriffen hat, und zwar gezielter als der unberatene Albrecht Nürnberger von dpa und die anonymen Élèven (Eleven?) aus G+J,s Hamburger Journalisten-schule:
Der Versuchung, einzelne Schreibungen zurückzuändern, weil dem einen diese, dem andern jene neue Schreibweise missfällt, hat die ZEIT widerstanden. Wenn sie einige Male dennoch Einzelschreibungen geän-dert hat, dann, weil die Rechtschreibkommission in mehreren hervorstechenden Fällen Wörter allem Anschein nach falsch klassifiziert und infolgedessen auch die falschen Regeln auf sie angewendet hat. Hier wurden also die neuen Regeln nicht über den Haufen geworfen, sondern nur richtiger angewandt.
Überhaupt kann es bei einer vorsichtigen Korrektur der Rechtschreibreform nicht darum gehen, andere, ver-meintlich bessere Regeln an die Stelle der offiziellen zu setzen und damit eine eigene private Orthografie eine Hausorthografie zu gründen. Es geht nur darum, an bestimmten, eng umschriebenen Stellen eine kleine Zu-satzregel einzusetzen, die es erlaubt, dort weiter die alte Orthografie zu benutzen. Diese Zusatzregeln dürfen erstens nicht zahlreich sein; sie müssen zweitens knapp, einfach und unmissverständlich sein; sie müssen sozusa-gen chirurgisch genau die und nur die Fälle treffen, für die sie beabsichtigt sind; und sie müssen den Strapazen der täglichen Praxis standhalten. Aus diesem Grund verbot es sich auch, einfach die vernünftigen Regelände-rungen zu übernehmen, die die Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission in Reaktion auf die inhaltliche Kritik nachträglich selber vorgeschlagen hatte, die von den Landeskultusministern jedoch nicht übernommen wurden. (DIE ZEIT 24/1999, S. 37)
Von diesem Vorsatz wich Dieter E. Zimmer jedoch ohne viel Federlesens ab, als er sich an die Revision eines besonders anstößigen Kapitels der Rechtschreibreform machte, nämlich der vielen neuen Getrenntschreibungen von zusammenge-setzten Partizipien (äußerst Besorgnis erregende Entwicklungen, Italiens Feuer speiende Berge). Nach Zimmers Programm ergibt sich die jeweilige vorsichtige Reparatur aus vorangegangener Erläuterung und Kritik, und die lauten hier so:
Bei Verbindungen mit dem Partizip I (auf -end) sieht die Neuregelung als Normalfall die Getrenntschreibung vor und die Zusammenschreibung nur dann, wenn ein Fugen-s vorhanden ist (bewußtseinserweiternd, er-werbsmindernd) oder wenn der erste Bestandteil für eine Wortgruppe steht, d.h., wenn er bei der Auflösung mehrere Wörter ergäbe (also himmelschreiend, weil himmel- hier für zum Himmel steht, aber Feuer speiend, weil Feuer hier keine Wortgruppe vertritt). Konsequent aber verfährt sie dabei nicht, denn in Fällen wie ab-scheuerregend oder markerschütternd oder schweißtreibend belässt sie es bei der Zusammenschreibung, ob-wohl keins der beiden Kriterien erfüllt ist. Bei der Neuregelung wurde anscheinend auch nicht bedacht, dass die meisten dieser Verbindungen als Ganzes gesteigert und außerdem substantiviert werden können und dass dieser Umstand zu widersinnigen, unmöglichen Schreibungen wie das nahe Liegendste, das nichts Sagendste führen würde. (DIE ZEIT 24/1999, S. 40)
Damit ist die Lücke erkannt, die die chirurgisch genaue Zusatzregel der ZEITSchreibung zu füllen hat, und die lautet so:
In der ZEIT gilt: Zu einem Wort verschmolzene Verbindungen mit dem Partizip I werden in sämtlichen For-men zusammengeschrieben. Die Verschmelzung erkennt man daran, dass ein Fugen-s vorhanden ist, dass der erste Bestandteil für eine Wortgruppe steht oder dass sie gesteigert vorkommen kann (gleichgültig, ob viele die gesteigerte Form für schlechtes Deutsch halten); sie liegt außerdem dann vor, wenn die Verbindung eine rechtliche Kategorie bezeichnet (alleinerziehend). (DIE ZEIT 24/1999, S. 40)
Diese Regel ist das Paradepferd der Zimmerschen Reformrevision. In der graphisch aufwendigeren Internet-Wörterliste sind die Sonderschreibungen der ZEIT durch Rotdruck gekennzeichnet: Es sind durch die Bank die wiederbelebten zusammengesetzten Partizipien. In einigen wenigen Fällen bleibt es dennoch bei der urigen Reformschreibung: ein Blut saugendes Insekt, eine Fleisch fressende Pflanze, ein Holz verarbeitender Betrieb, die Krieg führenden Mächte. Diese Schreibmöglichkeit muß es nach Zimmers Überzeugung weiterhin geben, weil eine Abgrenzung nötig ist zwischen ad hoc gebildeten Satzteilen (Wasser schluckend, Blumen schenkend), bei denen die Zusammenschreibung widersinnig wäre, und solchen Verbindungen, die als einheitliches Wort aufgefasst und behandelt werden. Aber darum geht es hier doch überhaupt nicht. Wenn man diese Verbindungen in ihre finite Form zurücktransformiert, fehlt (scheinbar) in jedem einzelnen Falle beim Substantiv der Artikel: es saugt Blut, sie frißt Fleisch, er verarbeitet Holz, sie führen Krieg. Tatsächlich liegt das an einer Besonderheit der Morphologie des Artikels im Deutschen. Die Sprachwissenschaftler sprechen von einem Zero-Artikel als charakteristischem Begleiter von Stoffbezeichnungen und Abstrakta übrigens auch für den Plural des unbestimmten Artikels. Bei den obigen Beispielen handelt es sich also mitnichten um ad hoc gebil-dete Satzteile (whatever that is), und die entsprechende Liste wäre leicht zu verlängern. Besonders häufig kommen solche Fügungen in fachsprachlichen Texten vor. Man stelle sich den komischen Effekt vor, wenn übliche Zusammen-schreibungen wie die nachfolgenden demnächst in der ZEIT getrennt erschienen:
ein bakterientötendes/keimtötendes Mittel eine energiesparende Vorrichtung eine kaufkraftvernichtende Steuerpolitik ein notleidender Wechsel ein zinstragendes Aktivum
Zimmers Wörterverzeichnis führt übrigens notleidend auf, das zwar nicht steigerbar, wohl aber intensivierbar ist: sehr/äußerst notleidend. Selbst die Zusatzregel ist also reparaturbedüftig. Es gibt in der jetzt gültigen Rechtschreibung jedoch zusammengeschriebene Partizipien, bei denen Zimmers drei Prinzipien auch nach dieser Ergänzung schlichtweg versagen. Was wird der Meister der ZEITSchreibung mit diesen traditionellen Zusammenschreibungen anstellen?
baumbewohnende Insekten die gastgebende Mannschaft eine flächendeckende Strategie der grenzüberschreitende Warenverkehr partei- und länderübergreifende Absprachen
Eine Orthographie, die mehr sein soll als eine phonetische Umschrift, läßt sich eben nicht nach rein formalen Kriterien regeln. Unter den Gebrauchsbedingungen, an denen sich die Schreiberinnen und Schreiber des Deutschen orientieren, spielt unter anderem die Bedeutung eine große Rolle. Gerade die haben aber die ideologisch verbohrten und zugleich sprachwissenschaftlich sehr unbedarften Reformer und Fachbeamten der KMK aus ihrem Regelwerk verbannt, und darin folgt ihnen Zimmer sklavisch. Sein Revisionsversuch ist also nicht nur deshalb ein orthographischer Holzweg, weil er in den meisten anderen Bereichen die reformverballhornten Schreibungen erhalten will. An einer Stelle bei der Aus-drucksdifferenzierung durch Getrennt- oder Zusammenschreibung erkennt Zimmer freilich selbst, daß er mit dem formalen Prinzip ins Schleudern gerät. Er muß zugeben:
Aber semantische Defizite lassen sich nicht anhand formalgrammatischer Kriterien ausgleichen, sondern nur an-hand semantischer Kriterien, und die sind notwendig weniger scharf. In manchen Fällen wird man also unsicher sein, ob Getrennt- oder Zusammenschreibung angebracht ist. In diesen Fällen gilt: wie im Rechtschreibwörter-buch. (DIE ZEIT 24/1999, S. 41)
Das ist nun wirklich der allergrößte Witz. Die Zuverlässigkeit der neuen Rechtschreibwörterbücher hat sich inzwischen so weit herumgesprochen, daß sie wie Blei in den Regalen der Buchhandlungen liegen. Bertelsmann hat gerade einen zweiten Anlauf unternommen und dabei sogar den Titel geändert (wie man anhand der großen Anzeige im ZEITSpezi-al leicht feststellen kann). Der Restbestand der durch und durch fehlerhaften ersten Auflage ist übrigens via GEW als hochherziges Geschenk an die Schulen in Schleswig-Holstein gegangen. Was ist das für eine Rechtschreibreform und was ist das für eine Revision, wenn sich am Ende die Regeln als unbrauchbar erweisen und wie auch immer legitimierte Experten festlegen müssen, wie das deutsche Volk schreiben soll.
Gibt es eine plausible Erklärung dafür, daß ausgerechnet DIE ZEIT bei dieser Verhöhnung der deutschen Schreibkultur mitmacht? Dieter E. Zimmer tut so, als sei die neue Rechtschreibung wie ein Naturereignis über die Deutschen gekom-men, die sich ihr nicht mehr entziehen können weder jetzt noch in Zukunft:
Ab 2005 wird sie für alle Schulen des deutschen Sprachraums die einzige verbindliche Rechtschreibung sein ausgenommen die Schulen in Schleswig-Holstein und etwaiger weiterer Bundesländer, die auf Grund eines Volksentscheids aus der Reform ausscheren und Deutschland zurück in die orthografische Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts zwingen. Am 1. August 1999 werden die Nachrichtenagenturen und mit ihnen ein Großteil der deutschen Presse ihre Schreibung umstellen. Sie wird jedem immer öfter begegnen, und dabei wird sie viel von ihrem Schrecken verlieren. Manche werden sie nicht einmal bemerken. Niemand muss sich in seinen privaten Schriften an sie oder sonst eine Orthografie halten; niemand aber auch hat ein Anrecht darauf, nur mit einer von ihm bevorzugten Orthografie konfrontiert zu werden, wie das Bundesverfassungsge-richt befand. Für die nachwachsende Generation wird die neue Rechtschreibung fürs Erste die einzige richtige sein und so selbstverständlich, wie für die Älteren die alte Rechtschreibung war. Und diese wird nach und nach das Air des Altmodischen annehmen; an ihr festzuhalten, wird einen bewussten und demon-strativen Akt des Protests gegen den Zeitgeist darstellen. (DIE ZEIT 24/1999, S. 37)
Das sieht Zimmers Journalistenkollege Dankwart Guratzsch anders:
Das feierlich bekundete Hauptziel, die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung zu wahren, ist verraten worden. Die Meinung von Hunderten Fachwissenschaftlern, der gesamten literarischen Prominenz und hoch-rangiger Politiker unter ihnen auch der Bundespräsident wurde in den Wind geschlagen. Wer hier noch davon spricht, dies alles geschehe im Interesse der Staatsräson, muß ein dürftiges Verständnis von dem haben, was Staatsklugheit das nämlich ist die Wortbedeutung und doch wohl nicht absolutistische Staatszucht für das demokratische Staatswesen bedeutet. (Die Welt v. 10. 4. 1999)
In der kurzen Zeitspanne seit ihrer Einführung ist die neue Rechtschreibung zum Steinbruch geworden. Erst bei der vorgesehenen Revision im Jahr 2005 wird sich herausstellen, was davon überhaupt übrigbleibt. (Berliner Morgenpost v. 21. 3. 1999)
Dem ist nur eines hinzuzufügen: Arme ZEITLeser, denen bis dahin Zimmers ZEITSchreibung zugemutet wird!
Jochems Schützenstr. 25, 57223 Kreuztal
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