Sägen bringt nicht immer Freude und Segen
Wer an dem Aste sägt, Auf dem er sitzt, Sehr bald erwägt, Ob ihm die Säge nützt?
Auf einer anderen Internetseite habe ich die Meinung eines Lehrers gelesen, der Deutsch für Ausländer unterrichtet. Nach seiner Ansicht ist die Rechtschreibänderung zu begrüßen, weil sie viele Ausnahmen beseitigt und seinen Unterricht erleichtert. Ob diese Feststellung zutrifft, kann ich nicht prüfen. Man sollte sich jedoch im klaren darüber sein, daß keine Sprache und keine Schrift ohne Ausnahmen auskommen. Eine ausschließlich an festen Regeln orientierte Schrift setzt entweder eine stark eingeschränkte Sprache voraus, in der viele Feinheiten und Abstufungen des Ausdrucks aufgegeben werden müßten, oder verlangte ein aufgeblähtes Maß an Regeln, das nur als Ballast empfunden würde. Vielleicht kann man die Hypothese aufstellen: Eine Sprache ist um so reicher, als sie grammatikalische und orthographische Ausnahmen aufzunehmen weiß. Sie kann dann die Vielseitigkeit der Realität viel besser abbilden als eine auf einfache Normen festgelegte Sprache. Einer vollständig normierten Sprache ermangelte die frische Natürlichkeit, die gewachsene Hochsprachen auszeichnet. Um sich die Fähigkeit zu erhalten, der natürlichen Entwicklung zu folgen, muß eine Sprache flexibel bleiben. Dieser Flexibilität wird geschadet, wenn wie bei der Rechtschreibänderung Tausende von Wörtern gestrichen werden. Auch in dieser Hinsicht hat das Diktat der Kultusminister eine verheerende Wirkung auf die deutsche Sprache.
Ein Lehrer, der Ausländer in Deutsch unterrichtet, sollte aber auch bedenken, daß er gerade von der immer noch vorhandenen Reichhaltigkeit der deutschen Sprache lebt. Wer möchte schon eine Sprache lernen, die arm ist an Wörtern und der die Möglichkeit, mit Hilfe grammatikalischer und orthographischer Formen fein zu differenzieren, geraubt wurde. Niemand lernt freiwillig ein Pidgin-Deutsch. Ich wünsche allen Deutsch für Ausländer unterrichtenden Lehrern, daß sie weiter einen starken Zustrom an Schülern haben und nicht eines Tages ohne Arbeit dastehen, weil die Formenvielfalt unserer Sprache verlorenging und sie soweit an Attraktivität eingebüßt hat, daß es sich nicht mehr lohnt, sie zu lernen.
G. Sauer Angerlohstr. 5, 80997 München
|