Was der kluge "F.A.Z."-Kopf nicht lesen durfte
Von der F.A.Z. nicht abgedruckter Leserbrief (15. August 2000):
In seinem Artikel »Viel versprechend, aber nicht vielversprechend« (F.A.Z., 10. August 2000) liefert Kurt Reumann die inhaltlich-materiellen Begründungen für die Entscheidung der F.A.Z., zur alten (F.A.Z.-Sprachregelung: zur »bewährten«) Orthografie auf der Grundlage der 1991 erschienenen 20. Auflage des Rechtschreibdudens zurückzukehren. Nach all den bloß emotionalen, kaum von Sachkenntnis zeugenden, beispielarmen Artikeln und vor allem Leserbriefen ist dies endlich eine Veröffentlichung, mit der sich die inhaltliche Auseinandersetzung lohnt.
Neben einzelnen Wortschreibungen wie »Bändel«, »Ständelwurz/Stendelwurz«, »Quäntchen«, »Tollpatsch« usw. sowie die »ss/ß«-Regelung betrifft Reumanns Kritik an der Neuregelung im Wesentlichen fünf Felder: Trennung nach Sprechsilben, Kommasetzung, Fremdwortschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung sowie Groß- und Kleinschreibung.
Was die für ihn »anstößige« Trennung nach Sprechsilben angeht, macht Reumann nicht deutlich, dass die vorgestellten Fälle einer Kann-Regelung unterliegen, man also nicht »ei-nander«, »vol-lenden«, »A-bort« trennen muss. Die neuen Trennmöglichkeiten berücksichtigen die Lautung dieser Wörter, die die Stammstruktur überlagern. Der Vergleich von »einarmig« und »einander« lässt dies hörbar werden: Im ersten Fall liegt die Silbengrenze zwischen »n« und »a« (dem »a« geht der so genannte Knacklaut voran), bei »einander« liegt die Grenze vor dem »n« (ohne Knacklaut vor dem »a«).
Auch bei den neuen Kommaregeln vermerkt Reumann nicht, dass es sich fast durchgängig um Kann-Bestimmungen handelt, und er ist sich nicht zu schade, die Propagandaformel zu wiederholen, dass die Interpunktion nach der Reform »weitgehend dem Belieben freigestellt« worden sei. Dies trifft, wenn überhaupt und dann auch nur eingeschränkt, auf Infinitiv-, Partizipial- und vergleichbare Konstruktionen zu.
Das Beispiel »Fotografie« für die missliebige neue Eindeutschung von Fremdwörtern ist nicht gut gewählt – die »f«-Schreibung findet sich als Möglichkeit schon im Duden 1991 (und lange vorher).
Im Bereich Getrennt- und Zusammenschreibung, dessen »einseitige Verregelung« Reumann »am ärgerlichsten« empfindet, macht er zu Recht auf einen der auffälligsten Schwachpunkte der Reform aufmerksam, wenn er als Faustregel zitiert: Zusammensetzungen werden zusammengeschrieben, Wortgruppen getrennt. An keiner Stelle wird in der amtlichen Regelung geklärt, was eine Zusammensetzung und was eine Wortgruppe ist, vielmehr ergibt sich eine Art Zirkel. Dennoch ist Reumanns Polemik, durch die vermehrten Getrenntschreibungen würde der deutsche Wortschatz dezimiert, mit Vorsicht zu betrachten. Am Beispiel der Neuschreibung »schwer fallen« (im Sinne von »Mühe machen«) möchte er zeigen, dass durch den Zusammenfall mit »schwer fallen« ein Bedeutungsunterschied eingeebnet wird. Dabei ist aber zu bedenken, dass diese Einebnung schon immer dann geschieht, wenn das Verb im Satz vor dem Adjektiv steht (»XY fällt schwer«) – der Zusammenhang sorgt hier für Klarheit und schafft dies auch bei »schwer fällt, schwer fiel, schwer gefallen« usw. Reumann berücksichtigt zweitens nicht, dass »schwerfallen« auch vor der Reform unter bestimmten Umständen getrennt zu schreiben war. In dem für die F.A.Z. nun wieder gültigen Duden 1991 wird »Getrenntschreibung in Verbindung mit einem Gradadverb u. bei Steigerung« vorgeschrieben: »diese Aufgabe ist ihr nicht so schwer gefallen; da es ihr von Tag zu Tag schwerer fällt«. Genau diese alte Regel wurde von der Reform aufgegriffen und generalisiert – also keine dumm-revolutionäre Laune, sondern Weiterentwicklung des in der bisherigen Rechtschreibung Angelegten. Dasselbe gilt für Reumanns Beispiele (in alter Rechtschreibung) »hochgestellte, sehr hoch gestellte Persönlichkeiten« »frischgebackene, ganz frisch gebackene Ehepaare« usw. (R 209 im Duden 1991).
Auch die Ausführungen zur Groß- und Kleinschreibung sind mit Vorsicht zu lesen: »Alles, was nach Substantiv riecht«, sei jetzt großzuschreiben (nach alter, »bewährter«, aber von Reumann hier nicht befolgter Rechtschreibung: groß zu schreiben): »Darauf müssen die armen Schüler jetzt ›Acht geben‹.« So war aber schon im Duden 1991 zu schreiben, und zwar in der Fügung »auf etwas größte Acht geben«. Jetzt wird beide Mal gleich geschrieben. In Bezug auf das immer wieder herangezogene Beispiel »Auto fahren – radfahren« behauptet Reumann, nach dem Alt-Duden sei »ich fahre Auto«, aber »ich fahre rad« zu schreiben gewesen, ein Stein des Anstoßes, den die Duden-Redaktion womöglich deshalb nicht entfernt habe, um »die Reform-Diskussion mit solchen Provokationen am Köcheln zu halten«. Ein Blick in den Duden 1991 macht diese Verschwörungsthese noch wahrscheinlicher, denn die Konfusion war (seit Anfang der 50er-Jahre) noch umfassender: Ich fahre nämlich Rad wie Auto, bin aber »Auto gefahren und radgefahren«.
Insgesamt ist festzustellen, dass das Feld der Getrennt- und Zusammenschreibung in Verbindung mit der Groß- und Kleinschreibung vor der Reform steiniger war, als es nach der Reform ist. Dies dürften sich die meisten der Bewahrer nicht klar gemacht haben. Wer könnte denn auf Anhieb die »bewährten« Schreibungen der folgenden Fügungen nennen: »Not tun, Not leiden, Leid tun, Diät halten, Diät leben; Kopf stehen, Schlange stehen; wohl tun, sich wohl fühlen; leicht nehmen, leichter nehmen, leicht genommen; ernst nehmen, ernster nehmen, ernst genommen; gut gehen, besser gehen, gut gegangen; zurande/zu Rande kommen, imstande/im Stande sein, infrage/in Frage stellen; aufgrund/auf Grund, mithilfe/mit Hilfe, aufseiten/auf Seiten, zuungunsten/zu Ungunsten; währenddessen, stattdessen«?
Eine genauere Betrachtung von Reumanns Argumenten macht deutlich, dass sie zu einem großen Teil nicht stichhaltig sind, dass sie die der Reform jeweils zugrunde gelegten Überlegungen nicht aufgreifen und dass sie leider auch nicht auf umfassender Kenntnis der alten, »bewährten« Rechtschreibung und der Orthografietheorie gründen. Dass auf einer solch schwachen Grundlage derart gravierende Konsequenzen wie die Abwendung von der Schulorthografie gezogen wurden, ist wohl nur damit zu begründen, dass die Rechtschreibung derzeit noch das einzige Feld ist, auf dem man, ohne in den Verdacht politischer Inkorrektheit zu geraten, nach Herzenslust konservativ sein darf.
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