Kommentar zu Sigi Müllers Beitrag
Im Gegensatz zu Herrn Wrase bin ich der Ansicht, daß es sehr wohl lohnt, mit entschiedenen Reformbefürwortern zu diskutieren. Es dürte in gewissem Sinne ja sogar noch sehr viel sinnvoller sein, als das mit ohnehin Gleichgesinnten zu tun.
Herr Müller zum Beispiel mag tatsächlich nicht viel von der Sache verstehen (jedenfalls weniger als viele Beitragsschreiber hier), aber das kann sich ja ändern. Ohne die Kenntnis bestimmter Zusammenhänge und Punkte, auf die nicht jeder unbedingt von selbst kommt, ist es doch auch nicht ganz so überraschend, wenn Leute diese als so toll und zeitgemäß und längst überfällig verkaufte Reform in einer Zeit der Trendglorifikation und Aufgeilung an Jahrtausendwende und Zukunft und Internet und blablabla einfach ganz toll finden, daß sie sie mit Fortschritt verwechseln. Vor allem ist gut denkbar, daß so mancher gegenüber den eifrigen Reformkritikern das vorschnelle Urteil fällt, dies seien bestimmt alles ganz unbewegliche Konservative, ewiggestrige Traditionsfanatiker, die sich einfach automatisch gegen jede Progression stemmen wollen und bei jeder kulturellen Neuerung einen Schaden des Deutschtums befürchten. Dann fehlt nur noch ein bißchen IDS-Propagandaschrift, und die betreffende Person ist voller Gewißheit, daß die Reform eine gute, politisch korrekte Sache ist. Weil sie die niedlichen, kleinen, schwachen, schutzbedürftigen Schulkinderchen doch auch so immens entlastet wer gegen so etwas ist, muß doch kinderfeindlich sein, ein rücksichtsloser Unsympath, der für sein ästhetisches Wohlempfinden die Leiden anderer ignoriert.
Falls Herr Müller doch noch hier reinschaut (was ich begrüßen würde), folgendes möchte ich ihm gerne auf seinen letzten Beitrag entgegnen:
Die neue ss/ß-Schreibung streift die neue Konformität im Plural ja nur zufällig am Rande. Man kann jedenfalls nicht von einer Regel Nuss/Nüsse statt Nuß/Nüsse sprechen. Wenn Sie das so in der Schule unterrichten, bringen Sie den Schülern die falschen Kriterien bei. Zwar haben die Reformer selbst fälschlicherweise behauptet, durch die neue Regel würde die s-Laut-Schreibung nun einem konsequent funktionierendem Stammprinzip entsprechen, aber anhand solcher Beispiele wie Fluss fließen, ich reiße er riss, so ´ne Scheiße so ein Beschiss erkennt man ja, daß immer noch Unregelmäßigkeiten vorhanden sind.
Welche Regelung die bessere ist, die alte oder die neue, ergibt sich schnell, wenn man die extreme Zunahme der Fehler in diesem Bereich (auch bei Schulanfängern, die sich nicht umgewöhnen mußten) sowie solche Schreibungen wie Missstand, Passstempel und derlei betrachtet.
Was wohl riechend/wohlriechend betrifft, so ist es doch gerade immer der Clou gewesen, daß durch getrennte und zusammengesetzte Schreibung eine Bedeutungsdifferenz ausgedrückt wird. Wenn daraus normativ eins gemacht wird, wie etwa der Duden zwar neuerdings wiedersehen wieder erlaubt, darin aber auch kein Unterschied zu wieder sehen gemacht wird, dann hat die Existenz zweier Schreibvarianten einfach keinen Sinn. Natürlich kann man die Varianten zulassen, wie das in vielen anderen Fällen auch immer schon geschehen ist. Aber wenn es bereits in der Sprachgeschichte einen eindeutige Bedeutungsunterschied gab (oder besser gesagt: es ihn immer noch GIBT!, denn die Mehrheit aller Lesenden und Schreibenden nimmt das natürlich immer noch so wahr; selbst die heutigen Schulkinder dürften das nach Lektüre einiger gehobener Literatur bemerken), warum sollte man diesen Bedeutungsunterschied verwerfen? Was sind denn das für Sprachverwalter, die solche Maßnahmen zulassen? Bei einigen Wörtern ist der Bedeutungsunterschied so ausgeprägt, daß man dann genausogut rechtfertigen könnte, die beiden Wörter schön und hell zu einem zu verschmelzen, bzw. nur noch eines zuzulassen, daß dann immer beides bedeuten kann.
Natürlich hat es immer schon Formulierungen gegeben, die etwas unklar ausdrücken, und natürlich hat es auch immer schon Wörter gegeben, die eine schillernde Bedeutung haben (wie umfahren oder miteinander schlafen; komisch, das Beispiel wäre noch viel besser, da könnte man sogar tatsächlich Zusammenschreibung erwägen). Doch wenn eine Orthographie einen eleganten Trick aufweist, den Inhalt durch eine kleine Lücke zwischen zwei Wörtern oder eben ihr Fehlen noch viel treffender, kürzer, eindeutiger, stilistisch vollendeter auszudrücken, dann ist es doch eine Schande, gerade diese nette und nützliche Eigenschaft in der Schriftsprache, die es bereits lange gibt und nicht etwa erst eine neu einzuführende Idee wäre, abzutöten.
Von allem, was die Reform gebracht hat, ist die ss/ß-Schreibung formal gesehen noch das Gelungenste, da sie eigentlich kristallklar funktioniert. Doch im Vergleich zur bisherigen Lösung kann sie trotzdem nicht überzeugen. Wenn die Neuregelung der Rechtschreibung die überhaupt erste jemals aufgestellte Regelung wäre, dann könnte man von Kinderkrankheiten reden, aber die Orthographie war bereits schon einmal besser, durchdachter, funktionaler einfach sprachgemäßer! Versucht man, die eindeutigen systematischen Mängel der Reform zu verdrängen, so bleiben nur noch ein paar überflüssige, irrelevante und zudem noch völlig willkürliche Änderungen von Schreibweisen einiger Wörter, die nun wirklich kein Mensch gebraucht hat. Die auch nichts nützen, da in den meisten Fällen dann auch noch nach 2005 in den Schulen die bisherigen Schreibweisen als Fehler angestrichen werden sollen!
Übrigens gegen Thür und Thor hätte ich nichts einzuwenden. Wenn man es Anfang des Jahrhunderts unterlassen hätte, das h aus diesen Wörtern zu streichen, würde mich das nicht weiter stören. Die Existenz des Dehnungs-h in wahr ist nicht viel berechtigter, denn trotzdem reimt es sich ja noch auf Bar. Wenn man erst einmal erkannt hat, daß sich die deutsche Orthographie nicht mehr auf ein phonetisches Prinzip trimmen läßt (zumal sie ja auch so völlig hinreichend funktioniert), dann kann man mit solchen Schreibweisen doch ganz gut leben. Hätte ich hundert Jahre früher gelebt, hätte ich die Streichung des h in Thür usw. wohl auch als sonderbar empfunden und vielleicht dagegen protestiert, je nachdem, ob es aktuell noch mehrheitlich gebräuchlich war oder nicht. Damals wurde jedoch erstmals ein allgemeiner Standard gesetzt, das darf man nicht übersehen. Und man darf auch nicht übersehen, daß der damalige Vorgang, sei er auch ohne Rücksicht auf vielleicht berechtigte Einwände geschehen, sich in der Kaiserzeit abspielte. Offensichtlich ist das Wort Demokratie heute doch nur einfach ein schönes Wort, faktisch aber eine Illusion. Sollte man das so hinnehmen? Das bundesdeutsche Grundgesetz enthält extra einen Paragraphen, der das Recht auf Widerstand gegen undemokratische Maßnahmen des Staates gewährt. Die Rechtschreibreform von 1996 ist nicht nur undemokratisch, sie ist geradezu antidemokratisch. Das weiß jeder, und doch ist es der politischen Macht egal: Bürger, schluck es oder laß es sein / doch halt dich raus, misch dich nicht ein. Tolle Demokratie.
Christian Melsa Veltheimstraße 26, 22149 Hamburg
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