Und jetzt im Ernst
Um nicht den Eindruck zu erwecken, meine Gegnerschaft wäre nur eine des Bauches und mein Sarkasmus allein emotional begründet, hier noch ein paar Worte dazu: Unter den Menschen mit großer Unsicherheit in der Rechtschreibung wird es zwar einige geben, für die die Zulassung von potenziell oder substanziell analog zu kommerziell (hat man schließlich auch vorher nicht kommertiell geschrieben) eine Erleichterung bedeuten wird, oder besser gesagt: eine Verminderung der Fehlerzahlen in einem Schuldiktat (was also nur während der Schulzeit zu einer mittelbaren Erleichterung im Sinne eines vordergründig besseren Erfolgserlebnisses führt). Aber rechtschreibschwache Menschen kennen zugrundeliegende Regeln eher weniger. Sie orientieren sich meistens an selbst hergestellten Analogien, wodurch Nazion, Informazion, Razion usw. leicht auf der Hand zu liegen scheinen. Vermehrte Orientierung an Stammprinzipien brächte nur dem eher Sprachgewandten etwas, der meist ohnehin keine großen Probleme mit Rechtschreibung hat. Der Rechtschreibschwache neigt meistens zu phonetischen Überlegungen wenn er überhaupt an der Schreibweise eines Wortes zu zweifeln beginnt, denn nur in einem solchen Fall würde er überhaupt anfangen, über Stammbeziehungen nachzudenken, ansonsten verfährt er unwillkürlich phonetisch. Sobald man seine Unsicherheit durch die Methode der stammprinzipiellen Überlegungen zu vermindern sucht, kommt es zu Übergeneralisierungen (sprächen, dänken, Träue usw.), die die Grenze der durch die Reform erfolgten Veränderung laufend überschreiten und so genau das Gegenteil von Vereinheitlichung im Schreibgebrauch bewirken. Denn ohne Orientierung an bereits etablierten Normen (wie sie durch die alte Rechtschreibung völlig befriedigend und wunderbar funktionierend vorlagen) entstehen durch die übertriebene Betonung des Stammprinzips vor allem in Abweichung vom verbreiteten Schreibgebrauch ständig andere, individuelle Fehlschreibungen, die witzigerweise auch nur deswegen Fehlschreibungen sind, weil die Reformer sie aus unerfindlichen Gründen im Gegensatz zu anderen nicht in ihren Katalog der nun bitteschön als richtig geltenden Schreibweisen aufgenommen haben. Das ist total unsolide, unbrauchbar und kontraproduktiv, sollte also besser verworfen werden. Rechtschreibsicherheit in einer Sprache mit gewachsener Orthographie, die sich eigentlich gar nicht mehr sinnvoll reformieren läßt, wie etwa Munske während seiner Reformierpraxis eingesehen hat, läßt sich nur durch Übung am resultieren Objekt erringen (mit anderen Worten: viel lesen) weniger durch subjektive Neuregulierung. Für diese Erkenntnis braucht man nur zu bedenken, daß zwar die Frage, ob Henne oder Ei zuerst da waren, nicht klärbar sein mag die Schreibweisen waren jedoch klar vor den Regeln da. Die Regeln leiten sich aus den vorliegenden tradierten Schreibweisen ab, weniger die Schreibweisen aus Regeln, erst recht nicht aus solchen, die der Retorte entstammen und ohne Praxisbewährung sind. Da eine Einheit (nicht mit totaler Systematik zu verwechseln, die nebenbei durch die Reform ohnehin auch noch nicht vorliegt!) der Schreibnorm 1996 bereits vorlag, im Gegensatz zum Jahrhundertbeginn, konnte diese nicht das wahre Ziel der Reform sein. Das Ziel der Vereinfachung (sich abbildend in Verringerung von Fehlern, d.h. Abweichungen gegenüber einer Norm) für den Schreibenden wird, wie man sieht und wie dargelegt auch nachvollzogen werden kann, nicht erreicht. Ganz im Gegenteil: Stammprinzip als produktives Verfahren ist einfach untauglich für dieses Ziel.
Christian Melsa Veltheimstraße 26, 22149 Hamburg
|