Die Zeit des Zeitgeist statt Geist
Bei Katja Stein fehlte vermutlich der Lächler. Aus Rücksicht auf jene, denen jeder Anglismus einen Schauer über den Rücken jagt, schreibe ich nicht Smiley. Aber diese Zeichen sind oft ganz praktisch, um das Fehlen des Mimikkanals in der Schrift wenigstens in den rudimentärsten Ansätzen ein wenig zu ersetzen :)... Wäre der letzte Duden wirklich modern, dann müßte er diese Symbole, die ja die Aussage eines Satzes ganz gewaltig beeinflussen können, ähnlich einem Ausrufe- oder Fragezeichen, in der Abteilung Interpunktion ebenfalls erwähnen. Frau Stein, ich würde übrigens, was den Mandel-Schwätzer betrifft, eher zur Einschätzung zu genial für diese Welt neigen. Wer sich intensivst, eingehend mit einer geistigen Angelegenheit beschäftigt, gilt in der heute verbreiteten Wahrnehmung allerdings ja leider nur noch als bewundernswert, wenn er sich z.B. mit sowas Nützlichem (was heute gleichbedeutend ist mit: kommerziell Verwertbarem) wie der Decodierung von kilometerlangen Buchstabensequenzen aus A,C,G und T beschäftigt. Anders gelagerte Genies heißen dagegen heutzutage Sonderlinge, so komische halt, die einem nicht geheuer sind. Ich glaube, die Massen müssen heute zum Schmierstoff der globalen Wirtschaft degradieren so ist das System, sein Korpus ist schließlich zum Wachsen verdammt, da ragt er irgendwann unvermeidlich in den Bereich des Absurden, den der sinnvoll vertretbare Grund seiner Existenz wächst ja nicht mit. Und zur globalen Wirtschaft gehört selbstverständlich auch die Medienindustrie: Sie muß sich eine kalkulierbare Konsumherde konditionieren. Die frisch Nachgewachsenen, die es nicht anders kennen, glauben dann sogar, Big Brother müsse ja voll cool sein, und wer nicht alle Pokémon-Karten hat, ist sozial unterprivilegiert (sicher, es sind klischeehafte Beispiele, aber sie treffen es nun mal). Es sieht gegenwärtig nicht so aus, als ob die Welt sich zu einer solchen entwickeln würde, in der die versteckten Botschaften bzw. Ehrerweisungen an das Göttliche seitens der alten Meister der Dichtkunst den jetztigen Durchschnittsmenschen etwas anderes als befremdliches Kopfschütteln abringen würde (indes wie mag es mit den zeitgenössischen wohl gewesen sein...?). Die Epoche zeichnet sich so auch mit genau den Eigenschaften aus, die für die Rechtschreibreform nötig waren: verbreitete Ignoranz gegenüber den Feinheiten des Schriftlichen zum Beispiel. Und die Chronik ihres siechenden Lebens seit 1996, von vielen Schaustellern notdürftig immer wieder gesundgeschminkt, sie widerspiegelt genau diese seltsame Kultur, die zunehmend vordergründiger, banaler, immer primitiver wird, so daß jene, die dem Geistvollen, Tiefgründigen eifrig frönen, von einem wachsenen Teil der Allgemeinheit zunächst als Spinner oder im günstigeren Fall noch als Witzfigur wahrgenommen werden. Früher mag das Geistlose in gewissem Ausmaß ein Naturzustand gewesen sein, den die Humanisten durch Aufklärung zu kurieren suchten. Heute aber ist es wohl eher so, daß Leviathane wie Bertelsmann und Kirch das Gegenteil missionieren, solange sie glauben, es sei proftitträchtig und das glauben sie mit Nachdruck. So, und jetzt dürft ihr Reformbefürworter mich Reformgegner gerne als Kulturpessimisten verspotten, ich komm damit schon klar... ;)
Christian Melsa 22149 Hamburg
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