Der Stein des Anstoßes: die Fakultativschreibung
Lieber Herr Professor Ickler!
Sie haben die Schulmeister gebeten, zu Ihren Argumenten Stellung zu nehmen.
Eingekapselte Denkweise
Wenn Sie in Bezug auf bestimmte Reformkritiker behaupten, die Denkweise des Schulmeisters sei eingekapselt, dann handelt es sich um ein Vorurteil. Genauso gut könnte man behaupten, die Denkweise der schweigenden Hochschulgermanisten sei im Elfenbeinturm eingekapselt. Dieses Schweigen zu Ihrem Wörterbuch ist blamabel. Außer einigen oberflächlichen Lobhudeleien hat sich auf dieser Netzseite nur ein einziger Germanist, Professor Wilfried Kürschner, öffentlich kritisch geäußert.
Grundbedürfnis nach Schreibsicherheit
Stephanus Peil nennt die Schlüsselfrage all derer, die ein Rechtschreib-Wörterbuch aufschlagen: Wie wird das Wort richtig geschrieben? Warum aber mißtrauen Sie dem Wunsch von Schreibern und Schreibberuflern nach eindeutigen Auskünften über die richtige Schreibung? Es liegt ein weitverbreitetes Grundbedürfnis nach Schreibsicherheit vor. Beispiele: 1. Die von den Reformern Ende 1997 geplante Reform der Reform. 2. Der Praxisduden von 1998 zeigt, daß die Variantenschreibung des reformierten Duden von 1996 nicht allen Wünschen der nachfragenden Schreibberufler nach Eindeutigkeit genügte.
Keine Dudenhörigkeit, sondern Reform- und Zeitungsgläubigkeit
Sie behaupten: Alle machen alles ständig falsch, und keiner merkt es! Ich glaube nicht an ein solche blinde Dudengläubigkeit; denn wenn es so wäre, hätte es keine Rechtschreibreform gegeben. Seit das Duden-Privileg 1996 aufgehoben wurde, gibt es verschiedene Wörterbücher, die miteinander konkurrieren. Daher ist Ihre Behauptung, daß es dudenhörige Reformgegner gebe, realitätsfremd. Ihre Behauptung: Man betrachtet den Duden als allwissend und als absolut verbindlich, trifft für die meisten Reformkritiker unseres Vereins nicht zu. Daß es aber in der Bevölkerung trotz Information und Aufklärung immer noch eine gewisse Dudengläubigkeit gibt, ist auf den früheren guten Ruf der Dudenredaktion und die Tatsache zurückzuführen, daß es kein leistungsfähigeres für den Schulgebrauch zugelassenes Wörterbuch gibt. Diese Dudengläubigkeit hat aber auf Grund der aufgedeckten Mängel sicherlich stark abgenommen. Heute gibt es eher eine Reform-, Schul- oder Zeitungsgläubigkeit. Heute nehmen neben den Reformern und den Wörterbüchern auch die Nachrichtenagenturen, die Presse und Korrekturprogramme als Big Brother Einfluß auf den allgemeinen Sprachgebrauch. Der stellvertretende Chefredakteur der Mainpost schreibt, die Mainpost verwende ein Rechtschreibung, die an fast allen Schulen gelehrt und von so gut wie allen deutschsprachigen Agenturen und Zeitungen nachvollzogen wird. ... Wir erachten es als relevant für die Gesellschaft, die Rechtschreibung zu nutzen, die in unseren Schulen gelehrt wird.
Kein ständiges Nachschlagen wegen der Getrennt- und Zusammenschreibung
Sie zeichnen das Horrorbild, man müsse wegen des Problems der Getrennt- und Zusammenschreibung in Tausenden von Fällen ständig nachschlagen. In Wirklichkeit spielt die Problematik der GZS im alltäglichen Wortschatz eine verschwindend geringe Rolle.
Fakultativschreibung fördert die Getrenntschreibung der Rechtschreibreform
Mit Ihrer Fakultativschreibung bieten Sie keine Antwort auf die Frage an: Wie wird das Wort richtig geschrieben?, sondern bürden dem Schreibenden die Entscheidung auf. Sie bieten Ihre Rundbögen als Ei des Kolumbus an: Der Bogen _ kennzeichnet Wortverbindungen, die in bestimmten Stellungen zusammengeschrieben werden können: kalt_stellen = kaltstellen oder kalt stellen. (S. 69. Die Rundbögen werden hier mit einem Unterstreichungsstrich dargestellt). In der Entwurf-Fassung von 1999 hieß es noch: Der Bogen _ kennzeichnet Gewohnheitsgefüge, die in bestimmten Stellungen zusammengeschrieben werden, ohne daß die Getrenntscheibung falsch wäre: kalt_stellen = kaltstellen oder kalt stellen. (S. XXXI). Diesen Hinweis findet man in der 1.Auflage von 2000 auf S. 17: In anderen Fällen ist Zusammenschreibung nur mehr oder weniger üblich. Getrenntschreibung ist dann nicht falsch, Zusammenschreibung aber oft besser.
Durch Ihre Fakultativschreibung sanktionieren Sie die Presse-Orthographie, die sich nach der Getrenntschreibungsregel der Rechtschreibreform richtet. Durch Ihre Zulassung der Getrenntschreibung kommt es zu einem orthographischen Rückschritt. Deshalb sind Ihre Rundbögen der Stein des Anstoßes.
Sprachimmanente Entscheidungskriterien für sinnvolles Schreiben
Genauso wichtig wie die Frage, wie man schreibt, ist die Frage, warum man so und nicht anders schreibt. Der Untertitel Ihres Wörterbuches heißt demzufolge: Sinnvoll schreiben ..., d.h. unter Einsatz seiner Sinne zu schreiben, z.B. mit dem Verstand und dem Hörsinn. Ihrer Meinung nach bedeutet ein Rechtschreibwörterbuch zweierlei: Bestandsaufnahme und Ratgeber. Rechtschreiben heiße aber nur schreiben wie die anderen, nichts anderes. Aber um welche Bestandsaufnahme geht es? Was soll registriert werden? Sie wollen feststellen, wie die anderen schreiben, indem Sie umfangreiche vom Zufall abhängige Zeitungstexte computergestützt nachprüfen (S. 13). Wie sieht diese Nachprüfung aus? Aus Ihrem Wörterbuch geht nicht hervor, daß Sie in jedem einzelnen Fall auf den Satzzusammenhang und damit auch auf die Bedeutung und die Betonung achten. Dadurch kommen Sie zu Entscheidungen, die nicht stichhaltig begründet sind. Zugleich werfen Sie aber das sprachimmanente Entscheidungskriterium der Betonung, das der Duden bis zur 20. Auflage verwendete, als nicht richtig auf den Müll (S. 10 f.). Im Widerspruch dazu heißt es aber wiederum bei Ihnen: Verbzusätze tragen bei neutraler Satzbetonung den Hauptakzent: aneinanderhängen, aber aneinander hängen (...) Ist das Verb bereits mit einem Zusatz versehen, so zieht ein zweiter Zusatz nicht den Hauptakzent auf sich: wiederherstellen. (S. 35). Im Ergebnis aber werden durch Ihr Konzept der fakultativen Zusammen- oder Getrenntschreibung (S. 37, 69) die Betonung und Bedeutung als Unterscheidungskriterien vernachlässigt, so daß die Benutzer irregeführt werden und die Schreibweise dem Kommissar Zufall und damit der Beliebigkeit überlassen wird.
Es geht aber bei der Schriftsprache um einen Kommunikationsprozeß, d.h. auch um den Transformationsprozeß des gesprochenen oder gedachten in das geschriebene Wort. Wer diese Übertragung falsch macht, schreibt auch falsch. Solche Übertragungsfehler kommen erfahrungsgemäß auch bei Zeitungstexten vor. Am Anfang war das Wort und nicht die Schrift. Fast völlig ausgeklammert wird bei Ihnen, dadurch daß Sie Ihre nicht aussagekräftigen statistischen Erhebungen zur Entscheidungsgrundlage machen, was Sprache wirklich ausmacht, die mündliche Sprache, die Betonung und die Bedeutung eines Wortes im Satzzusammenhang. Es kommt in der Sprache alles auf den Zusammenhang an. Wilhelm E. Süskind: Vom ABC zum Sprachkunstwerke. Eine deutsche Sprachlehre für Erwachsene. München: dtv 1965, S. 15. Der freie Blick auf die Sprachwirklichkeit darf nicht durch starre Statistiken über richtig und falsch geschriebene Pressetexte eingeengt werden.
Die Betonung als Geländer für die Zusammen- und Getrenntschreibung
Die richtige Schreibweise ist in den meisten Fällen allein anhand der Betonung zu erkennen. Die Zahl der Zweifelsfälle ist relativ gering. Sie meinten aber am 11.01.2001: Die Betontheit ist kein hinreichendes Kriterium, es gibt unzählige anerkannte Getrenntschreibungen trotz Betontheit des Zusatzes. Auch bei geschlossen lassen oder getrennt schreiben wird der erste Teil betont. Wolfgang Mentrup weist auf die zentrale Bedeutung der Betonung für die Zusammen- und Getrenntschreibung hin: In der Regel zeigt ein Hauptton auf dem ersten Bestandteil einer Fügung Zusammenschreibung an, aber Betonung beider Bestandteile Getrenntschreibung. Da in Ausnahmefällen aber die Betonung nicht immer eindeutig zu erkennen ist, empfiehlt Mentrup nur für diese Zweifelsfälle die Getrenntschreibung. Wenn zwei gedanklich zusammengehörende Wörter ihre volle Bedeutung und damit ihre Selbständigkeit bewahrt haben, sollte an sie getrennt schreiben. (Wolfgang Mentrup: Die Regeln der deutschen Rechtschreibung. Mannheim: Dudenverlag, 1968, S. 130 f.) Damit stützt sich Mentrup auf die rein sprachlichen Entscheidungskriterien der Betonung und Bedeutung. Daher befindet sich Mentrup mit der Zusammenschreibung auf der Linie der Sprachentwicklung. Daher geht es auch nicht mehr um die Frage, ob eine Schreibung dudengemäß ist oder nicht; denn in den meisten Fällen kann jedermann an der Betonung erkennen, wie er schreiben muß. Die Betonung ist für Lehrer wie Stephanus Peil ein Geländer, für Norbert Schäbler ein Stützbalken. Sie und die Reformer entfernen dieses Geländer, ohne einen Ersatz anzubieten und meinen am 13.01., man könne das Gebrauchen oder Nichtgebrauchen der Getrennt- oder Zusammenschreibung getrost den Schreibenden überlassen. Das ist keine wirkliche Hilfe, sondern Laisser-faire. Verleger Walter Lachenmann hat recht, wenn er schreibt, daß dadurch auch fragwürdige Schreibpraktiken einen offiziösen Charakter erhalten.
Auch ein Lehrer kann beim Korrigieren nicht ständig im Wörterbuch nachschauen. Hat er das Geländer Betonung als Entscheidungskriterium, dann wird er zufriedenstellen nicht getrennt, sondern zusammen schreiben. Zufrieden stellen ist demnach falsch, weil durch die Verbindung zufriedenstellen ein eigenständiger Begriff entstanden ist. Nur ein Lehrer, der im Unterricht das Kriterium der Betonung vernachlässigt hat, muß die Schuld bei sich suchen. Christian Melsa schreibt am 13.01. ganz richtig: Zusammenschreibung ist in genau den Situationen besonders anzuraten, in denen die Getrenntschreibung die sofortige Eindeutigkeit der Satzaussage abschwächt oder sogar verschleiert. (...)Wahrscheinlich sollte man sogar noch einen Schritt weiter gehen und darauf hinweisen, daß auch in einem Kontext, in dem die Getrenntschreibung keine direkte Unklarheit bewirkt, Zusammenschreibung zu empfehlen ist, da sich so in den allermeisten syntaktischen Stellungen die dem Leser aus anderen Situationen (Vermeidung von Mißdeutungen, s.o.) vertrauten Wortbilder schneller auffassen und verarbeiten lassen. Das begünstigt den Lesefluß. Dies nun ist also wichtig, um IRRITATIONEN beim Lesen zu vermeiden. (...) Zu Ökonomie oder auch Effizienz bzw. Lesekomfort gehören zudem weiterhin, daß Wortgruppen, die als Sinneinheiten gedacht sind, als solche bequemer und schneller aufgenommen werden, wenn sie zusammengeschrieben sind Das ist sinnvoll und vernünftig.
Vernichtung von Wörtern durch die Getrennschreibung
Sie schrieben am 11.01.2001: Die heftige Kritik an der Getrenntschreibung kann ich nicht nachvollziehen. Welche Begründung ließe sich dafür geben? Der bloße Verweis auf die bisherige Dudenregel genügt mir nicht. Diese Frage nach dem Warum ist in Ihrem Wörterbuch ebenfalls nicht beantwortet.
Der Musikjournalist Dr. Diether Steppuhn schrieb am 12.12.2000 an die Mainpost, es sei eine Verarmung der Sprache, wenn sinnvolle Wörter wie zulassen (in beiden Bedeutungen, also sowohl geschlossen bleiben als auch erlauben) oder wiedersehen plötzlich nicht mehr existieren. Alle Wörterbücher sind sich einig, daß zulassen in allen Bedeutungen zusammengeschrieben wird. Warum soll man diese eindeutige Schreibweise zerstören und alternativ bzw. fakultativ eine Getrenntschreibung zulassen, so daß aus der Eindeutigkeit eine Zweideutigkeit wird und der Leser durch die falsche Betonung verwirrt und irregeführt wird und stutzt?
Reformer sehen Lösung im Kriterium der Betonung
Eben sehe ich, daß Norbert Schäbler sehr interessante Fragen stellt, denen ich mich anschließe: 1. Warum haben die Rechtschreibreformer im Konzept, das als sog. Wiener Absichtserklärung bekannt wurde, das Merkmal der Betonung abgeschafft, das der Duden bis dato als Unterscheidungskriterium gebrauchte? 2. Warum hat die Rechtschreibreformkommission in ihrem Bericht im Dezember 1997 auf Seite 23 im Zusammenhang mit der GZS formuliert: Es sei daher ratsamer, als wichtigste Kriterien die Betonung und die Geltung als syntaktisch eigenständiges Abjektiv bzw. Adverb heranzuziehen? 3. Warum spielt die Betonung im Bereich der GZS inzwischen wieder eine untergeordnete Rolle? Sie antworteten darauf, daß sich das Kriterium der Steigerbarkeit als untauglich erwiesen habe und daß die Reformer deshalb seit 1997 die Betonung wieder einführen wollen. Näheres im Anhang zu Ihrem Kritischen Kommentar (Mannheimer Anhörung).
Wenn man wieder auf die Betonung achtet, dann werden (sich) sattessen oder sattessen, ernstnehmen eben wieder zusammen geschrieben. Das plattgemacht Herrn Dörners muß ebenfalls zusammen geschrieben werden. Nur weniger sprachsensible Leser überlesen das getrennt geschriebene Wort »platt machen«. Folgt man seinem Sprachgefühl, d.h. hier der Betonung, dann ist die Schreibweise klar.
Zwischen der starren Dudenfestlegung fertigstellen und der ebenso starren Reformerfestlegung fertig stellen steht die (Icklersche starre) Sprachwirklichkeit: fertigstellen/fertig stellen. Tatsächlich muß aber auf Grund der Betonung nur fertigstellen zusammen und nicht getrennt geschrieben werden.
Der Teufelskreis der Fakultativschreibung
Völlig unverständlich ist mir Ihre Begründung für Ihr Festhalten an der Fakultativschreibung
1. Das statistische Material berechtige nicht zu Einzelfestlegungen 2. Entschiede der Lexikograph im Sinne der Eindeutigkeit bei jedem Wort, ob es getrennt oder zusammenzuschreiben sei, dann müßte man jedesmal nachschlagen. (S. 13): 3. Ich bitte jeden Interessierten, sich den ungeheuren Gewinn an Ökonomie der Darstellung (und des Lernaufwandes) klarzumachen, der durch mein Verfahren erreicht ist, und dagegen die Kosten jeder anderen Lösung gut abzuwägen! (13.01.)
Sie befinden sich hier in einem Teufelskreis: Sie meinten irrtümlich, die statistischen Auswertungen könnten zu einer eindeutigen Entscheidung führen. Ihre nur scheinbar unangreifbare empirische Basis ist recht zweifelhaft, weil sie sich zum einen nur auf Schriftlichkeit anstatt auf sprachimmanente Kriterien stützt und zum anderen auf einen Teil der Presseorthographie, deren Qualität ohnehin kritikwürdig ist. Da Sie aber sprachimmanente Kriterien ablehnten, wichen Sie auf die Fakultativschreibung als eine Notlösung aus. Die fatale Folge der Fakultativschreibung ist die Beliebigkeitsschreibung, wie sie sich bereits in der Presse-Orthographie zeigt. Auch in Ihrer Argumentation zeigen sich die Folgen des Dogmas der Fakultativschreibung. Sie schreiben, die Getrenntschreibung sei unauffällig, man lese darüber hinweg, ohne etwas zu merken.
Die Lösung des Problems
1. Der Ausweg aus diesem Teufelskreis ist die Rückkehr zu den bewährten sprachimmanenten Entscheidungskriterien, die auch dem Duden bis zur 20. Auflage von 1991 recht gute Dienste leisteten. Nur dann gelangt die Rechtschreibung auf dieselbe Ebene wie die Semantik, Grammatik und Stilistik. 2. Bei der Bewertung (nicht bei der Korrektur) von Rechtschreibfehlern im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung sollten Lehrer bei grammatisch möglichen Konstruktionen in Zweifelsfällen tolerant sein.
Manfred Riebe Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg
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