Resistent?
Lieber Herr Ickler, wenn das, was Sie darlegen, so wäre, wie Sie es darlegen, hätten wir ja nicht diese Diskussion, sondern wir würden Ihnen alle mit Begeisterung wie einem Anführer folgen oder wie einem Papst huldigen. Vermutlich wollen Sie weder Anführer noch Papst sein, ich persönlich möchte auch weder den einen noch den andern haben. Was wir bräuchten, wäre ein Anwalt. Mit Anwälten ist es oft so das zeigt die Erfahrung daß man denen sein persönliches Anliegen noch so deutlich schildern kann, auch eine schriftliche Vorformulierung hilft nichts: wenn man dann das Anwaltsschreiben liest, kennt man seinen eigenen Fall nicht mehr. Oder nur noch teilweise, und das, was einem wichtig wäre, ist weg. Gewinnen tut man manchmal trotzdem, oder gerade deshalb, aber hier paßt die Analogie nicht mehr, denn wir wollen ja auch nicht vom Regen in die Traufe kommen. Dabei ist das Anliegen doch so meint jeder ziemlich klar. Wir wollen nicht vorgeschrieben bekommen, wie wir richtig schreiben sollen, schon gar nicht abweichend von den bisherigen Gewohnheiten, und erst recht nicht so, daß uns unsere eigenen Texte nicht mehr gefallen oder gar unsinnig erscheinen. Also der Absolutheitsanspruch sowohl der alten Rechtschreibregeln wie der neuen sollte erst einmal gebrochen werden. Und dann bräuchten wir ein Wörterbuch, in dem Ratsuchende, also Leute, die nicht erst in die Tiefen irgendwelcher Auslegungsdiskussionen einsteigen können, sondern schnell weiterarbeiten wollen, nachschlagen können, wie sie im Zweifelsfall schreiben sollen (das sind alle hier Beteiligten bisher vermutlich viel seltener gewesen als jetzt in der neuen Konfusion, die selbst sonst Schreibsichere in Selbstzweifel stürzt). Dazu sollte man möglichst nur eine Antwort finden. Nun mag es schwierig sein, objektive Kriterien für das »Richtige« festzulegen, die Diskussion zeigt es. Kaum schlägt einer eines vor, kommt ein Gegenargument. Die Betonung ist es nicht, die Aussprache ist es nicht, immer kommen Abweichungen und Ausnahmen. (Ihr Beispiel »klarsehen« ist mir völlig fremd, was soll das denn sein? So lange durchs Fenster gucken, bis es sauber ist?) Da scheint Ihr Ansatz einleuchtend, sich nach dem Sprachgebrauch zu richten. Nur wie ist denn der? Der ist immer wieder durchsetzt von Unsicherheiten, Anmaßungen, Dummheiten aller Art, oft tatsächlich, ohne daß selbst der Sprachbewußte es noch merkt. Wie wollen Sie verhindern, daß all dieses Eingang findet in Ihr Wörterbuch? Da braucht es eben schon auch gewisse Steuerungen, und die Frage wäre vorrangig die der Kompetenz der Steuernden. Manchen Untugenden, bei denen wir selbst uns schon gelegentlich ertappen können, sollte eine weitere Sanktionierung verweigert werden, es wäre meines Erachtens auch denkbar, manches bereits im Wortschatz aufgenommene Dummzeug auf diese Weise wieder außer Kraft zu setzen. Wenn wir einmal darauf verzichten, einander die Tippfehler und sonstige Schreibpannen vorzuhalten (auch wenn ich »zufriedenstellen« richtig finde, kann es mir passieren, daß ich »zufrieden stellen« schreibe, ohne es zu bemerken, aber dann auch ohne es zu wollen, und ich korrigiere es sofort, wenn ich es merke), bin ich mir ziemlich sicher, daß in einer Korrespondenz unter den hier Beteiligten, auch wenn der Sprachumfang noch wesentlich ausgedehnter wäre, alle so ziemlich dieselbe Rechtschreibung hätten. Also gibt es doch eine Art Norm. Und ein Wörterbuch müßte in allererster Linie diese Norm festhalten. Wenn man mit Messen, Zählen, Wiegen nicht weiterkommen kann, hilft vielleicht der gesunde Menschenverstand, das Stil- und Sprachgefühl und das Gefühl der Ästhetik (da bin ich wieder). Wenn ich die Zeit hätte, würde ich mir tatsächlich gerne die Arbeit machen, und Ihr gesamtes Wörterbuch wie ein Verlagslektor nacharbeiten. Ich bin ziemlich sicher, daß wir dann das Wörterbuch hätten, das alle Ihre verzweifelten Freunde gerne möchten. Wobei ich dabei auch diese einladen würde, dasselbe zu tun. Vermutlich hätten wir weitgehend übereinstimmende Ergebnisse. Wo Meinungsunterschiede bestünden, könnte man sicherlich Einigung erzielen. Für einen Wissenschaftler vielleicht ein undenkbares, unprofessionelles Vorgehen. Für einen Verleger ein naheliegendes. Sicherlich: der Begriff »gesunder Menschenverstand« ist unpräzise und man gerät leicht in die Nähe derer, die dazu »gesundes Volksempfinden« sagen.
So diskussionsbereit Sie sind Herr Ickler, was wir alle sehr an Ihnen schätzen, mir persönlich kommen Sie gelegentlich ein bißchen resistent gegen plausible Argumente vor.
Walter Lachenmann Krottenthal
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