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Theodor Ickler
02.02.2001 23.00
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wurst

Lieber Herr Swaton,
der neueste Duden hat in der Tat „das ist mir wurst“, und ich bilde mir gar nicht unbescheiden ein, daß diese Ändereug gegenüber der vorigen Auflage und auch gegenüber der amtlichen Neuregelung (die davon ja nichts weiß) nicht ohne mein Zutun zustande gekommen ist. Es wäre nicht das erste Mal, daß die Dudenredaktion meine Hinweise aufgegriffen hat. Ich bemühe mich ja überall um die bestmöglichen Lösungen.



Theodor Ickler
Ringstr. 46, D-91080 Spardorf

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Theodor Ickler
02.02.2001 23.00
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Omnia praeclara rara

Lieber Herr Lachenmann,
vielleicht können wir uns doch einigen: Wenn ich Sie recht verstehe, dann meinen Sie mit „Norm“ (oder einem entsprechenden Ausdruck) die Spitzenqualität oder das Muster, nach dem man streben sollte, das aber die meisten meistens nicht erreichen – nach dem gelehrten Motto dieses Beitrags eine ganz natürliche oder vielmehr logische Sache. Ich dagegen meine mit „Norm“ das Normale, den Durchschnitt.



Theodor Ickler
Ringstr. 46, D-91080 Spardorf

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Walter Lachenmann
02.02.2001 23.00
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Gelehrte unter sich...

Lieber Herr Ickler,

immer wieder gelingt es Ihnen, mich in meine Schranken zu verweisen. Leider kann ich die Überschrift Ihres an mich gerichteten Textes nicht verstehen, da ich niemals in meinem Leben mich mit Latein in einem »aktiven Prozess« befaßt habe, »bei dem die selbsttätige (handelnde) und aktive kognitive Verarbeitung des Lernstoffs die entscheidende Rolle spielt.« (Katharina Wagner).

Oder darf ich mich geadelt fühlen, weil Sie in der Sprache der Gelehrten mit mir reden? Nun, ich will es gerne so verstehen.

Ich bilde mir überhaupt ein, Ihre Standpunkte in diesen Diskussionen zu verstehen und finde sich auch nicht »falsch«. Nur – es fehlt dabei etwas. Aber ich will nicht wieder von vorne anfangen.

Jedenfalls schönen Sonntag und »Theo gratias, in vino veritas« – soviel Gelehrtensprache ist mir in meinem langen Leben immerhin zugeflogen.

Ihr Walter Lachenmann



Walter Lachenmann
Krottenthal 9, 83666 Waakirchen

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Theodor Ickler
02.02.2001 23.00
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Gaußsche Normalverteilung

Lieber Herr Lachenmann,
nichts für ungut, war nur ein kleiner Scherz. Ich bin ja auch gegen diese Humanistensprüche und habe mir mit Spott darüber schon Feinde gemacht. Also auf deutsch heißt das ungefähr: „Was echt total Geiles kannste lange suchen!“ Und das ist doch unbestreitbar richtig.



Theodorus Ickler
Spardorf

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Walter Lachenmann
02.02.2001 23.00
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Gebongt!



Walter Lachenmann

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Gast
02.02.2001 23.00
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Schieflage der Sprache



Schwinden des Praxisbezugs

Wer kennt demnächst noch den Unterschied zwischen „das Schiefgehen“ (Verb: schiefgehen) und „das schiefe Gehen bzw. der Schiefgang“ (Verb: schief gehen) oder „Geheimhaltung“ (Verb: geheimhalten) und „geheime Haltung“ (Verb: geheim halten) usw.

Darüber wurde zwar schon mehrfach berichtet, und nach meinen eigenen Beiträgen zum Thema tauschten dann „die Gelehrten“ wieder untereinander Fachausdrücke wie „orthographische Rückbildung“ etc aus, was dann auf mich als Sprachpraktiker manchmal etwas abgehoben wirkt; eher hätte ich mir da gewünscht, daß einmal jemand dieser Experten mir direkt antwortet, und zwar auf meiner Sprachebene. Die Zahl der intellektuell eingefärbten Erörterungen in dieser Rubrik „Gästebuch“ ist inzwischen ja ziemlich gestiegen, aber sie erwecken tatsächlich manchmal den Eindruck, als kümmere man sich sehr um scharfsinnige Begründungen, warum dies oder das so oder so geschrieben werden muß oder sollte, und „wo steht das?“, und der eigentliche Bezug zum Wesen der deutschen Sprache tritt in den Hintergrund.

Dies sollte nicht sein. Denn wohin bewegen wir uns? Wollen wir tatsächlich zulassen, daß die bereits eingetretene Schieflage der Sprache „festzementiert“ wird?

Eine Schrift soll das gesprochene Wort so festhalten, daß es einwandfrei zurückgelesen werden kann. Dies ist aber infolge der meisten neuen Regeln nicht mehr möglich, wenn ich diese auch so anwende, wie die Schriftreformer es gerne hätten. (Sie hatten „Schriftreformer“ sein sollen und keine „Sprachreformer“; und bei Ihrem z.T. unbedarften Tun gingen ihnen scheinbar wichtige Kausalitäten der deutschen Sprache und der zugehörigen Schrift verloren. Welche Zeugnisnoten sie wohl früher im Fach Deutsch hatten?). Bewegen wir uns nun tatsächlich in Richtung zweier Sprachschriften? Vielleicht A und B, eine gehobene (welche die Sprache fast 100-%ig reproduzierbar macht) und eine einfache (welche beim Zurücklesen, wenn wirklich so gelesen wird, wie es da nun steht, einen neuen Sinn ergeben kann, die Reproduzierbarkeit der Originalsprache also vielleicht nur noch 80 % garantiert?).

Ich weiß nicht, woher mein gutes Sprachgefühl kommt, es ist wohl angeboren, denn bei manchen Regelungen weiß ich gar nicht, wie sie heißen. Ich weiß einfach, wie man etwas schreibt oder schreiben muß/sollte, damit das Geschriebene dem entspricht, was ich ausdrücken will. Es ist wie in der Musik und der zugehörigen Notenschrift, ich berichtete bereits vor einigen Tagen darüber. Ich bilde mir auf diese Sprachbegabung nichts ein, wundere mich aber umso mehr, weshalb bislang nur Dichter und Poeten heftig die Rechtschreibreform kritisierten, und nicht auch Schauspieler, die doch auf den geschriebenen Text angewiesen sind. Und hier beginnt auch mein Praxisbezug:

Richtiges Sprechen (denken Sie einmal darüber nach, was dies alles impliziert, beobachten Sie Schauspieler in Theater und Fernsehen wowie Sprecher im Rundfunk) ist etwas großartiges, alle Nuancen und Ausprachefolgen und Einfärbungen der deutschen Sprache auszunutzen und richtig einzusetzen. Deutsch ist eine wunderbare Klangsprache, wo Worte wie „klirrende Kälte“, „summen“, „einschmeicheln“, „Alptraum“ und „Krieg“ etc etc bereits fast genau den gemeinten Zustand ausdrücken und verbalisieren. Solche Zusammenhänge habe ich aus dem Deutsch-Unterricht meiner Schulzeit behalten, und ich bin dem damaligen Lehrer dafür heute noch dankbar. Auf dieses Sprachgefühl- und -verständnis legte er großen Wert, und nicht nur auf die starren Regeln, warum man dies oder das so oder so schreibt.

Durch diesen Hintergrund lebt die Sprache bei mir, und ebenso versuche ich beim Schreiben dieses innewohnende Gefühl, diese Lebendigkeit mit zu übertragen, damit der Leser es dann auch erfahren kann. Richtiges Schreiben bedingt also zunächst richtiges Sprechen, korrekte und disziplinierte Aussprache. Eine Trennung nach Sprechsilben könnte danach also durchaus die richtige sein, aber erst, nachdem ich nach den „Sinnsilben“ geforscht habe (wenn ich schon meine, unbedingt trennen zu müssen, denn es geht auch ganz gut ohne).

Fazit: Wie kann man den Menschen im deutschen Sprachraum bzw. denjenigen, welche sich damit befassen, ein besseres Gefühl für diese ihre Sprache vermitteln? Dies wäre eine gute Aufgabe für die Lehrer, und eigentlich hätten hier Sprach- oder Schriftreformer einsetzen müssen. Erst danach ergibt sich: Wie schreibe ich dies nun? Und beim letzteren reicht es dann, wenn ich gewisse Richtlinien gebe, dem Bürger also „tools“ oder Werkzeuge in die Hand gebe, die er nun so anwenden soll, daß das Niedergeschriebene auch seiner Intention entspricht. Eigentlich ein hohes Ziel, was bei der Realisierung große Eigenverantwortung verlangt. Aber wer hat die? Es ist ja viel bequemer, irgendwo nachzuschauen, dann bin ich die Verantwortung los. Doch damit beginnt eine „Inflation des Wertes unserer Sprache“; vor wenigen Tagen wurde der Dichter Reiner Kunze zitiert (Beitrag „zu hohes Gut“), und auch er äußerte sich hierzu u.a.: „... Wort ist Währung, je wahrer, desto härter“.

Wenn wir den jetzigen Kurs beibehalten, oder durch Schulterzucken sich festsetzen lassen, sind wir mitverantwortlich am Niedergang einer Sprachkultur. Aber möglicherweise ist dies nur ein Indiz dafür, daß wir den Punkt der Kulmination in unserer westlichen Kultur längst überschritten haben ...



Dietrich Beck
Großensee

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Theodor Ickler
02.02.2001 23.00
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Kinderbücher I

Was liest denn meine Tochter gerade? „Die wilden Hühner“. Hm. Cecilie Dressler Verlag. Das ist doch der Verlag, der alle Kinderbücher von Erich Kästner auf Neuschreibung getrimmt hat, so daß man sie nicht mehr lesen kann und folglich auch nicht mehr kaufen und verschenken.
Schaun wir mal rein, während sie ihr Cello bearbeitet. „Sie hob viel sagend die Augenbrauen.“ Na so was! Warum muß sie denn so viel sagen, während sie die Augenbrauen hebt? Übrigens haben die Reformer das Wort „vielsagend“ längst wiederhergestellt, der neue Duden führt es sogar als Hauptstichwort und gibt nur an, „auch viel sagend“ sei möglich, leider ohne Differenzierung der Verwendungsbedingungen. Weiter im Text: „noch mal“ – kommt ungefähr zehnmal vor und ist zehnmal falsch, denn die Neuregelung schreibt Zusammenschreibung vor. Hat zuerst niemand gemerkt, und als ich es der Kommission mitteilte, schrieb Klaus Heller zurück, er wolle sich drum kümmern (so wenig kannte sein eigenes Werk!). Inzwischen steht im Duden: „noch mal, auch nochmal“ – was aber immer noch falsch ist, denn im amtlichen Regelwerk steht ausdrücklich nur Zusammenschreibung. „Die schmutzig graue Stadtnacht“ – das ist „korrekt“, aber man fragt sich, was für ein Satzglied „schmutzig“ hier eigentlich sein soll. Jeder normale Mensch würde schreiben „schmutziggrau“ oder „schmutzig-grau“. „Heute schaffen wir’s nicht mehr hinzufahren.“ Hier muß jetzt ein Komma stehen. Im großen und ganzen haben die Kinderbuchverlage es sich schon wieder abgewöhnt, Kommas wegzustreichen, so auch in diesem Buch; aber hier ist es neuerdings obligatorisch. „Fred warf den andern einen viel sagenden Blick zu.“ Schon wieder! „Ihre Mutter fand, dass die Drei im letzten Aufsatz Besorgnis erregend gewesen war.“ Auch das ist „korrekt“, aber grammatisch falsch, weil das erweiterte Partizip nicht prädikativ gebraucht wird. Stand bisher in der Dudengrammatik. Übrigens ist „besorgniserregend“ auch schon wiederhergestellt, gegen das amtliche Regelwerk. Man fragt sich aber, was in Verlegern vorgeht, die sehenden Auges Grammatikfehler in ihre Bücher hineinkorrigieren. Immer wieder fällt mir der bekannte Schulbuchautor ein (er hat auch das Sprachbuch meiner Tochter verbrochen), der mir schrieb, er finde die Reform auch nicht gelungen, aber: „Ich werde der Norm gehorchen, weil sie die Norm ist.“ Ein deutscher Mann. Aber warum machen die Kinderbuchverleger mit? Haben sie wirklich, wie sie schon 1996 behaupteten, herausgefunden, daß Bücher in herkömmlicher Orthographie nicht mehr gekauft werden? Es sollte sich herumsprechen, daß die jetzige Produktion in einer Übergangsschreibung gehalten ist, über die man schon bald nur noch den Kopf schütteln wird. Soweit für heute zum Cecilie Dressler Verlag.



Theodor Ickler
Ringstr. 46, D-91080 Spardorf

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Manfred Riebe
02.02.2001 23.00
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Heimliches Abschreiben

Ich bin weit davon entfernt, Ludwig Reiners oder andere Autoren als Stilratgeber zu empfehlen. Dafür fehlt mir jede Kompetenz. Mir fällt im Gegenteil negativ auf, daß die Sprachratgeber selten genaue Quellenangaben enthalten. Nicht nur Ludwig Reiners (1896-1957) war ein Plagiator. Das heimliche Abschreiben ist in dieser „Branche“ die Regel. Da Reiners 1957 starb, konnte er seine Stilratgeber natürlich nicht mehr aktualisieren. Aber obwohl manche seiner Stilvorschriften nicht mehr zeitgemäß sein mögen und Sprachwissenschaftler ihn kritisieren, ist interessant, daß Ludwig Reiners in Fachkreisen immer noch als der Meister der Stillehre und Sprachkritik zitiert wird. Auch Wolf Schneider lobt Reiners über den grünen Klee. Daß der Freiburger Germanist Jürgen Schiewe das Werk Ludwig Reiners‘ neubearbeitet und herausgegeben hat, wußte ich nicht. Es wäre aufschlußreich zu erfahren, ob es überhaupt Sprachstillehrer gibt, die in der Sprachwissenschaft anerkannt werden.

Übrigens: Eduard Engel (1851-1938) war nicht Halbjude, sondern Vierteljude; vgl. Sprachwelt 45 (1989), S. 24.



Manfred Riebe
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg

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Manfred Riebe
02.02.2001 23.00
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Korrektur: Heimliches Abschreiben

Korrektur der Quellenangabe: Nicht „Sprachwelt“, sondern richtig: „Sprachspiegel“ 45 (1989), S. 24. Dieser Schreibfehler ist ähnlich wie ein Versprecher ein Flüchtigkeitsfehler, d.h. ein „Verschreiber“. Von den Aufsatzkorrekturen her wissen wir Lehrer, daß Rechtschreibfehler selbst bei sorgfältigem Lesen bei der Korrektur immer wieder übersehen werden.
Wenn sich ein Fehler einmal eingeprägt hat, ist er auch nicht mehr so einfach zu löschen. So schrieb ich noch als Abiturient „entgültig“, bis ich feststellte, daß diese Schreibweise falsch ist. Aber, obwohl ich wußte, daß diese Schreibweise falsch ist, machte ich noch lange Zeit immer wieder den gleichen Fehler. Ebenso machen auch Schüler selbst beim Abschreiben oft viele Fehler, weil sie z.B. falsche Wortbilder gespeichert haben. Daraus kann man schließen, daß das Lesen allein keineswegs ausreicht, fehlerlos zu schreiben. Bei den Fehlern in Zeitungstexten dürfte es sich übrigens ähnlich verhalten.



Manfred Riebe
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg

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Manfred Riebe
02.02.2001 23.00
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Sprachkritik: Nivellierung der Sprache durch Gaußsche Normalverteilung?

Lieber Herr Professor Ickler!

Walter Lachenmann schrieb im Gästebuch: „Nun ist der linguistisch-wissenschaftliche Standpunkt vielleicht der, daß man sagt: Wir stellen ja nur fest, was Realität ist. Dann geht das Niveau eben hinunter. Und da frage ich mich, ob es zu dieser wissenschaftlichen Position (und Aufgabenstellung), die ich schon nachvollziehen kann, nicht doch ein Gegengewicht geben sollte, ein erzieherisches, pflegendes.“ (In: „Schludrigkeit – Sprachwirklichkeit – Sprachpflege?“ 04.02.2001)

Deshalb versuchte ich herauszufinden, welche „Philosophie“ oder Theorie Sie diesbezüglich vertreten. Dabei sind mir folgende Ihrer Gedanken im Gästebuch aufgefallen:

1. „Schon vor vielen Jahren und ganz unabhängig von der Rechtschreibreform habe ich eine liberale Auffassung von Sprachnormen vertreten und bin dafür sogar mit dem Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet worden („Die Ränder der Sprache“, Heidelberg 1978).“ (In: „Schule und Orthographie“ 13.01.2001)
2. „Aus dem abweichenden (also falschen) Gebrauch von heute wird der normale Gebrauch von morgen. (In: „Versuch, etwas zu erklären“ 03.02.2001)
3. „Ich dagegen meine mit „Norm“ das Normale, den Durchschnitt.“ (In: Omnia praeclara rara 04.02.2001)
4. Gaußsche Normalverteilung 04.02.2001 (1)

Das erinnerte mich assoziativ an Schulleiter, die die Gaußsche Normalverteilung zum Maßstab für die Benotung von Schulaufgaben erhoben, aber auch an die Gesamtheit aller Dienstlichen Beurteilungen, deren Ergebnisse ebenfalls mit der Gaußschen Normalverteilung übereinstimmen sollten. Das war für die Lehrer weder hinsichtlich der Schulausgaben noch für ihren Unterricht ein Anreiz. Was machen die meisten Lehrer in dieser Zwickmühle mit einer schlecht ausgefallenen Schulaufgabe? Sie ändern die Punkteverteilung bzw. den Punkteschlüssel, damit die geforderte Gaußsche Normalverteilung herauskommt, so daß sie vor dem Schulleiter vorbildlich dastehen. Ebenso werden die Dienstlichen Beurteilungen passend gemacht.

Ich meine, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, ob man als Lehrer und Erzieher die Qualität oder den Durchschnitt zur Norm macht. Wenn man den Durchschnitt zur Norm macht, kommt in den Schulen und Universitäten das heraus, was Walter Lachenmann kontrastierend beschreibt:
„Vermutlich war es in den hinter uns liegenden Jahrhunderten so, daß jemand, der überhaupt schreiben konnte und auch noch publiziert wurde, eine gewisse Bildungs- und sprachliche Qualitätsstufe hatte, die den Standard der geschriebenen Sprache definierte. Da wurde – vermutlich – weniger geschludert. Jedenfalls wird heute so viel und von so vielen ungebildeten und sprachlich ehrgeizlosen Leuten geschrieben, daß sich dies auf den Standard der geschriebenen Sprache schlecht auswirkt.“ (In: „Schludrigkeit – Sprachwirklichkeit – Sprachpflege?“ 04.02.2001)

Über diesen Sprachverfall ärgern sich viele Universitätsprofessoren, darunter auch Lutz Götze: „An der Universität erleben wir die Verwilderung sprachlicher Sitten und Normen besonders schmerzlich.“ (vgl. seinen Leserbrief aus der SZ vom 22.01.2001 im Forum von www.deutsche-sprachwelt.de). Was also ist zu tun? Man sollte, wie Walter Lachenmann meint, eine sprachliche hohe Qualitätsstufe anstreben. Dazu gehört, daß sich die Sprachwissenschaft mehr als bisher mit Sprachkritik befaßt. Man braucht eine von der Sprachwissenschaft beratene, linguistisch fundierte Sprachkritik mit dem Ziel, den gegenwärtigen und künftigen Sprachgebrauch auf einer hohen Qualitätsstufe zu erhalten. Solche Ansätze linguistischer Sprachkritik gibt es, z.B.
Ickler, Theodor: Zur Semantik des politischen Schlagwortes. In: Sprache und Literatur 21 / Heft 65 (1990), S. 11-26.
Ickler, Theodor: Die Disziplinierung der Sprache. Fachsprachen in unserer Zeit. (Forum für Fachsprachen-Forschung, Band 33). Tübingen: Gunter Narr Verlag, 1997 (Vgl. darin das Literaturverzeichnis).
Ickler, Theodor: Kritischer Kommentar zur „Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“: mit einem Anhang zur „Mannheimer Anhörung“, 2. durchgesehene u. erw. Auflage, Erlangen und Jena: Verlag Palm & Enke, 1999 (Erlanger Studien, Band 116).

____________________
(1) Anmerkung zur Gaußschen Normalverteilung: Carl Friedrich Gauß (1777-1855), ein deutscher Mathematiker, entwickelte u.a. die Wahrscheinlichkeitstheorie durch Aufstellung und Berechnung des Schemas einer Kurve der Normalverteilung als bildliche Darstellung des von ihm so benannten „Fehlergesetzes“. Die Gaußsche Häufigkeitsverteilung hat eine Glockenform. Angewandt auf die Schule sollte nach Möglichkeit die überdurchschnittliche „Durchschnitts"note „Drei“ herauskommen.



Manfred Riebe
Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg

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Gast
02.02.2001 23.00
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Sehr geehrte Frau Dr. Menges,

erlauben Sie mir einige Bemerkungen.
Nach einigen Jahren Erfahrung mit der Reform können wir sehen, daß
sich die Schreiberleichterungen auf die Adverbiengroßschreibung und
einige Einzelfälle (z. B. „nummerieren“) beschränken. Die übrigen
Regelungen haben zu keiner Verringerung, ja einige sogar zu einer
Zunahme der Fehlerzahlen geführt.
Dazu kommt, daß die Regeln der Getrenntschreibung hoch problematisch
sind und sich etwa Hauptschülern definitiv nicht vermitteln lassen.

Auf der anderen Seite stehen der finanziellen Aufwand der Einführung,
die Verunsicherung vieler Menschen, der Verlust der Einheitlichkeit
(zumindest für einen nicht unbeträchtlichen Zeitraum [nein, das ist
nicht nur die Schuld der bösen, bösen Reformgegner die ja bloß zu faul
zum Umlernen sind!]) und der Kontinuitätsbruch.

Das sind überraschend hohe Kosten für doch recht wenig Ertrag.
Müssen also wir die Vereinfachungen noch weiter vorantreiben? Nun,
zwischen Schreiben und Lesen besteht ein „Trade-off“: was das
Schreiben erleichtert, erschwert meist das Lesen. „Heut zu Tage“ wird
uns verstärkt die effiziente Aufnahme von Informationen abgefordert.
Zugleich unterstützt uns beim Schreiben immer besser der Computer.
Daher ist es nicht unmittelbar ersichtlich, warum nun der Schwerpunkt
vom Lesen auf das Schreiben verschoben werden sollte. Natürlich kann
man nach dem Abwägen von Für und Wider zu dem Ergebnis kommen, daß es
am wichtigsten sei, das Schreiben zu erleichtern.
Doch zunächst muß man eben jene Arbeit des Abwägens leisten. Dies
aber haben die Reformer nicht geleistet. Daß sie dennoch der Kritik
standhalten, ist leider kein Zeichen für sorgfältige Vorbereitung. Es
ist vielmehr Ergebnis einer Verfahrensregelung, die für die Mehrzahl aller
Betroffenen unbefriedigend ist und auf die Frage, wie die Schreibnorm
an die sprachliche Entwicklung gekoppelt werden könnte, gewiß nicht die
optimalste Antwort gibt.

Mit freundlichen Grüßen
Axel Kopp



Axel Kopp
Augsburg

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Theodor Ickler
02.02.2001 23.00
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Normales

Lieber Herr Riebe,

nun führen Sie sogar meine eigenen Schriften ins Feld, um mir zu beweisen, daß es eine sprachwissenschaftliche Sprachpflege gibt. Na, ich werde wohl noch einigermaßen wissen, was ich geschrieben habe und was nicht.
Um mein scherzhaftes Geplänkel mit Herrn Lachenmann machen Sie zuviel Aufhebens. Ich wollte doch bloß sagen, daß ganz schlechter und sehr guter Ausdruck natur- und gaußgemäß immer selten sein wird. Das trägt zur Klärung des Normbegriffs bei.
Daß Sie unter den Autoritäten, die den Sprachverfall bejammern, auch Lutz Götze nennen, wundert mich. Götze will doch bloß von der Rechtschreibreform ablenken, an der er so gut verdient. Erinnern Sie sich noch, was er auf dem Podium in München gesagt hat? Er wolle eine Rechtschreibung, die ein Sechsjähriger versteht ... Und nun beklagt er die „Verwilderung sprachlicher Sitten und Normen“ an der Universität!

Aber nun noch ein ernstes Wörtchen: Wollen Sie wirklich mit mir darüber streiten, ob Eduard Engel (für den ich mich schon 1988 in der „Muttersprache“ verwendet habe), „Halbjude“ oder „Vierteljude“ war? Ich habe diese Nazikategorie selbstverständlich in Anführungszeichen gesetzt, weil ich die ganze Begriffsbildung absurd finde. Ist ein Mensch mit einer muslimischen Großmutter ein „Viertelmuslim“? Übrigens weiß ich jetzt alles über Eduard Engel, weil ich gerade die voluminöse Dissertation von Anke Sauter (E. E.    – Literaturhistoriker, Stillehrer, Sprachreiniger, Bamberg 2000) rezensiert habe (erscheint demnächst in der FAZ). Dort erfährt man auch, daß Engel keineswegs Selbstmord begangen hat, wie in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Mut“ kolportiert wird.



Theodor Ickler
Ringstr. 46, D-91080 Spardorf

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Christian Dörner
01.02.2001 23.00
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Duden und Grammatik

Die Neuregelung wird auch immer deshalb kritisiert, weil sie an vielen Stellen grammatisch falsche Konstruktionen verursacht: sehr Leid tun, völlig Recht haben usw.
Zumindest ein Punkt ist mir nun eingefallen, in dem der Duden von 1991 eine grammatisch falsche Schreibweise fordert, denn man muß schreiben: „wie Wurst/Wurscht mir das ist“
Ist dies nicht ebenso falsch wie die neueingeführten Großschreibungen von „Recht haben“, „Pleite gehen“, „Leid tun“ etc.?

Noch eine kurze Anmerkung zu „not tun“:
Ich bin erfreut darüber, daß Herr Wrase meine Auffassung teilt: Man kann die Zusammenschreibung durchaus freigeben, dann aber mit einer Empfehlung Richtung Getrenntschreibung. Da sind wir uns einig. Bei „leid tun“ und „weh tun“ kann ich (noch) keinen Trend zur Zusammenschreibung erkennen.



Christian Dörner
91058 Erlangen

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Walter Lachenmann
01.02.2001 23.00
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Wann wird ein Fehler richtig?

Herr Ickler sagt: »Ich meine, zunächst kann es nur darum gehen, daß jeder dieses sein eigenes Sprachverhalten so gut wie möglich einrichtet: zweckmäßig, unanstößig, verständlich, gefällig, schön ... (oder auch mal nicht, wenn’s drauf ankommt). Eine Frage des guten Geschmacks, aber auch des Eigennutzes, denn warum soll ich mich unverständlich ausdrücken, wenn Verständlichkeit vorteilhafter ist? (Oder auch mal umgekehrt; Sprache ist ja „vielverzwecklich“.)«
Das ist in der Tat ein sehr schöner Gedanke.

Nur: Das setzt ja voraus, daß »jeder« ganz bewußt mit seiner Sprache umgeht. Und das eben ist sehr häufig nicht der Fall. Rechtschreibung wird von vielen, die sogar journalistische Ambitionen haben, als nebensächlicher Firlefanz abgetan, der in die Verantwortung von kleingeistigen Korrektoren fällt. Nach meinen Beobachtungen ist die Lust am präzisen Ausdruck, an der Nuance, die auch mit orthographischen Mitteln ausgedrückt werden kann, am sprachgestalterischen Fabulieren immer seltener anzutreffen. Es wird viel geschludert, und so können sich »Fehler« breitmachen, die von anderen gedankenlos übernommen und mit der Zeit gar nicht mehr als Fehler wahrgenommen werden. Ist das dann der Zeitpunkt, an dem sie »richtig« geworden sind?

Ein Beispiel aus der Praxis. Über 15 Jahre betreute ich die Produktion einer bekannten Reiseführerreihe. Die Autoren waren professionelle Reisejournalisten, teilweise sogar ziemlich bekannte. Fast jeder schrieb von einem »lohnenswerten« Reiseziel, Ausflug, Museumsbesuch usw. Auch die Fachredakteure im Verlag haben sich daran niemals gestoßen. Meine penetranten Hinweise, das müsse doch wohl »lohnend« heißen, quittierten sie mit Unverständnis und Kopfschütteln. Fachredakteure! Ist also »lohnenswert« jetzt nach 15 Jahren »richtig«, wo es eigentlich »lohnend« heißen müßte? Wenn man der Sprachwirklichkeit der Reiseführerliteratur folgt ja. Aber im Wortsinne bleibt es falsch. Ebenso wie »geil« inzwischen ja so etwas wie »schön« oder »toll« oder so bedeutet, aber eigentlich doch etwas ganz anderes. Ich ertappe mich auch immer wieder dabei, daß ich das sage. Ärgere mich dann, weil ich das blöd finde.

Es ist eben leider so, daß nicht »jeder sein eigenes Sprachverhalten so gut wie möglich einrichtet«. Das mag daran liegen, daß wir es mit einer Schwemme von mittelmäßigen Schreibern zu tun haben, denen es mehr auf das »daß« als auf das »was« ankommt beim Schreiben. Das wirkt sich auf die Sprache sicherlich aus. Ich würde gerne wissen, ob die Linguistik es für ausreichend hält, diese Vorgänge deskriptiv zu registrieren. Vielleicht ist das ja auch in Ordnung so. Umso mehr sollte man dann aber Mittel zum Gegensteuern finden, auf keinen Fall von Staats wegen, das ist klar, aber wie dann? Oder doch gar nicht?



Walter Lachenmann
Krottenthal 9, 83666 Waakirchen

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Gast
01.02.2001 23.00
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Der Untergang der deutschen Sprache?

Manfred Riebe schrieb am 02.02.2001

> Die Rechtschreibreformer haben u.a. so häßliche und ungrammatische
> Wortgebilde erfunden, daß einem die Schönheit der herkömmlichen
> deutschen Sprache wieder bewußter wird.

Schöne Sprache besteht aus mehr als Rechtschreibung; zugegeben: Neuschreib erschüttert einen Vielleser in seinem Lesegenuß. Für mich hat ein Neuschreibtext etwas von einer Stolperstrecke. Dennoch dürften wir uns einig sein, daß die Mehrzahl der Altschreibtexte nicht für den Literaturnobelpreis infrage gekommen wäre.

Ahem – warum schreibt man eigentlich nicht „Litteratur“?

> „Einem“? Offenbar nicht jedem; denn in einer Sendung zum
> „Europäischen Jahr der Sprachen“ 2001 von Bayern Radio 2
> „Babylon – Europa: Welche Zukunft hat die deutsche Sprache?“
> am 25. Januar sagte z.B. die Geschäftsführerin der Gesellschaft
> für deutsche Sprache (GfdS) Karin Eichhoff-Cyrus wörtlich:
> „Die Fehler von heute sind die Regeln von morgen.“

An dieser Aussage stimmt so manches.

Zum einen traut sich der gemeine Deutsche nicht, das von ihm Geschriebene beruhigt als nicht korrekturbedürftig stehenzulassen, wenn nicht eine „Regel“ ihm das explizit erlaubt. Mir waren zwar bisher Regeln einigermaßen egal und der Duden ein Regalbrettdrücker; wenn aber jemand meine Texte las und Zweifel an einer bestimmten Schreibung hatte, holte man jenen Band als Schiedsrichter her und übernahm die dort aufgeführte Schreibung – ohne sich über deren Sinn oder Unsinn Gedanken zu machen. Dieser wohlfeile und alleswissende Schlichter ist auf ewig verloren. So mancher professionelle Schreiber wird nun an der Neuschreibung irre, weil sie eben längst nicht für jede Frage eine Antwort bietet. Dabei vergißt man, daß die „alte Rechtschreibung“ ja auch nicht kodifiziert war – und schon längst nicht vollständig – die Leute allerdings auch längst nicht so verkrampft nach „Regeln“ gefragt haben, wie heute in Zeiten der Verunsicherung.

Sprache hat keine Regeln, die „nie“ oder „immer“ gelten – zum Leidwesen derer, die gern alles ausnahmslos in Schubladen verpacken möchten.

Zum zweiten stimmt an der obigen Aussage, daß im Sprachgebrauch „richtig“ sein wird, was heute noch als „falsch“ gilt. „Fortschrittliche Kräfte“ haben vor etwa dreißig Jahren angefangen, die englische Zweitbedeutung von „realisieren“ (nämlich „wahrnehmen“) ins Deutsche zu übertragen und das „to remember“ als nicht-reflexives „erinnern“. Jeder Lehrer hätte das damals dick rot unterstrichen, aber die Flugblätter der Spontis waren außerhalb seiner Reichweite. Mir ist es noch immer eine Maus rückwärts schlucken, wenn ich ‚realisieren‘ muß, daß einer ‚seinen letzten Urlaub erinnert‘. Ich ‚bin aber sicher‘ (früher: ‚mir sicher‘), daß die drei genannten Formen sich durchsetzen werden. Selbst wenn ich bei meinen alten Formen bleibe, verschwinden werden sie wahrscheinlich doch.

Jemand erfindet ein neues Wort oder eine neue Konstruktion – und alles sagt zuerst: „Falsch“. Wenn aber mehr und mehr Leute diese Form übernehmen, läßt ein deskriptives Wörterbuch sie als Alternative zu. Vielleicht geht sie dann wieder unter wie die „Kautsch“ und der „Komputer“, vielleicht aber übernehmen immer mehr Leute die neue Form, die alte wird alt- und ältermodisch, man schmunzelt über die, die sie noch verwenden, und schließlich bettet man sie in der Sprachgeschichte zur Ruhe.

Das Besondere an der aktuellen Situation der Rechtschreibreform ist, daß nicht eine größere Gruppe von Sprechern eine Mode kultiviert hat, sondern ein ganz kleines Grüppchen seine Marotten der Schreibgemeinschaft aufzwingt. Das hat zumindest zum guten Teil geklappt. Wenn man den Durchdringungsgrad der Schreibung „Tipp“ verläßlich messen könnte, würde man wohl feststellen, daß ein reichlicher Prozentsatz der Bevölkerung dieses Ubiquitärwort bereits so übernommen hat. Da bin ich mir ganz sicher (Ich habs nicht, aber ich bin ja auch ein Querkopf). Noch sind wir Deutschen gute Untertanen.

Man kann an Zeugnissen der vergangenen sechzig Jahre sehen, wie immer mehr Wörter zusammengewachsen sind und immer mehr kleingeschrieben wurden. Mit Schmunzeln lese ich im „Riegelmann“ dessen Plädoyer für „deutsche“ Sprache – in Schreibweisen, die mir recht neuschreiblich anmuten. Seit den sechziger Jahren hatte sich im Detail eine ganze Menge geändert – wir haben es nur nicht gemerkt (oder uns vor Augen geführt), weil sich die Entwicklung langsam vollzog.

Die Zukunft allerdings wird nicht so graduell verlaufen: Auf praktisch jedem Schreibtisch steht der große Blechbruder, und in der absoluten Mehrzahl dieser Kisten wirkt das gleiche Textprogramm. Dieses wiederum ist mit einem automatischen Wörterveränderer ausgestattet, der nach einer normalen Installation eingeschaltet ist. Ihn abzuschalten kostet wenige Handgriffe, aber die Mehrzahl der Anwender beherrscht sie nicht. Alles, was an Schreibweisen auf Wortebene auf Linie gebracht werden kann, wird auf diese Weise hartnäckig auf Linie gebracht. Der Computer hat eine unendliche Geduld – auch wenn man aus Überzeugung das ß haben möchte – nach dem nächsten Leerzeichen hat der eingebaute Lausbub (oder Oberlehrer?) es wieder ausgetauscht.    Wenn ein Altschreibler mit „WORD“ Texte verfaßt, erkennt man diese schnell daran, daß die gängigen Wörter mit „ß“ auf „dass“, „muss“, „lässt“ umgenordet sind, während eine „Verdrußsache“ unverändert blieb.

In Zukunft dürfte die Rechtschreibung der Deutschen nicht von Duden oder Bertelsmann vorgegeben werden und nicht von der „zwischenstaatlichen Kommission“. In Zukunft dürfte die deutsche Tochter eines amerikanischen Softwarekonzerns bestimmen, wie die Deutschen schreiben.





Martin Gerdes

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