Aporie und Erleuchtung: Satirisches zur neuen Kommasetzung
Ein Leserbrief, der vor längerer Zeit in der Süddeutschen erschien, den ich überarbeitet und verbessert habe:
Da ich mich über die Kommasetzung informieren will, blättere ich, pflichtbewußter bayerischer Beamter, neugierig und erwartungsfroh in meinem Regelbuch (Duden, Die neue amtliche Rechtschreibung, 1997) und lese Paragraph 76: Bei Infinitiv-, Partizip- oder Adjektivgruppen oder bei entsprechenden Wortgruppen kann man ein (gegebenenfalls paariges) Komma setzen, um die Gliederung des Ganzsatzes deutlich zu machen bzw. um Missverständnisse auszuschließen. Gut, denke ich, es liegt also in meinem Ermessen, ob ich bei solchen Gruppen das Komma oder die Kommata setzen will oder nicht. Das folgende Beispiel sticht mir in die Augen: Sie suchte den etwas ungenauen Stadtplan in der Hand ein Straßenschild. Begeistert bin ich nicht gerade, eher erschrocken, denn die Wortgruppe den etwas ungenauen Straßenplan in der Hand sollte man doch eigentlich mit Pflichtkommata abgrenzen müssen. Bei flüchtigem Lesen könnte man meinen, die Frau habe in der Hand ein Straßenschild oder einen Stadtplan gesucht. Offenbar werden im Regelwerk, schimpfe ich vor mich hin, die Kommata nicht immer dort vorgeschrieben, wo sie hilfreich, nötig und sinnvoll wären. Andererseits muß ich den Kindern die Setzung völlig überflüssiger Beistriche eintrichtern: Hilf mir!, ruft die Mutter... Ich lese jetzt den Paragraphen 77: Zusätze oder Nachträge grenzt man mit Komma ab; sind sie eingeschoben, so schließt man sie mit paarigem Komma ein. (...) Dies betrifft: (...) (6) In-finitivgruppen und (7) Partizip- oder Adjektivgruppen. Zuerst denke ich kurz darüber nach, ob man Nachträge einschieben kann (denn dann wären es doch eher eingeschobene Zusätze) und komme zu keinem rechten Ergebnis; aber dann ergreift mich Staunen und Verwirrung. Im Paragraphen 76 war mir doch das Komma bei solchen Wortgruppen grundsätzlich (sogar dann, wenn Mißverständnisse möglich wären) freigestellt worden! Und jetzt muß ich es offenbar setzen! Halt, nur dann, wenn solche Wortgruppen Zusätze oder Nachträge sind! Aber sind sie nicht immer in irgendeiner Form Zusätze oder Nachträge? Beunruhigt und verwirrt forsche ich nach einer Definition von Zusatz und Nachtrag. Denn davon hängt es ja ab, ob ich das Komma setzen muß oder ob ich es auslassen darf! Aber ich finde keine Definition. Ich suche die Beispiele für (6) und (7) und erhalte dort den überraschenden Hinweis, daß es sich um nachgetragene Wortgruppen handelt. Pflichtkomma also nicht bei Zusätzen, nur bei Nachträgen? Aber der Kopftext des Paragraphen 77 (siehe mein Zitat oben) verlangt bei Inifinitiv-, Partizip- und Adjektivgruppen ausdrücklich auch für den Fall, daß es sich um Zusätze handelt, verpflichtende Kommata. Was gilt denn nun eigentlich innerhalb des Paragraphen 77 für die genannten Wortgruppen, das Grundsätzliche, Allgemeine, das im Kästchen steht: Zusätze oder Nachträge? Oder gilt nur der Oberbegriff für die Beispiele (6) und (7): nachgetragene Wortgruppen? Und gilt nun der Paragraph 76, der bei Infinitiv-, Partizip- oder Adjektivgruppen das Komma grundsätzlich freistellt, oder gilt der Paragraph 77, der das Komma bei diesen Gruppen grundsätzlich vorschreibt? Entmutigt und ratlos lese ich die Beispiele, wundere mich darüber, daß etwa die Infinitivgruppe ohne den Vertrag vorher gelesen zu haben in dem Satz Er, ohne den Vertrag vorher gelesen zu haben, hatte ihn sofort unterschrieben als Nachtrag gilt und nicht als Zusatz, und ahne plötzlich, daß diese Infinitivgruppe ein eingeschobener Nachtrag sein muß. Des ersten Rätsels Lösung! Aber was ist der Unterschied zwischen eingeschobenem Zusatz und eingeschobenem Nachtrag? Sollte etwa der Begriff Zusatz genau dasselbe meinen wie der Begriff Nachtrag? Das kann ich mir kaum vorstellen! Oder bedeutet Nachtrag schlicht und einfach nachgestellter Zusatz? Aber der nachgestellte Zusatz kann auch eingeschoben sein! O Gott! Ich versuche, die in meinem Kopf wirbelnden Begriffe wie lästige Fliegen zu vertreiben, und lese schließlich unter (7) dieses Beispiel: Die Klasse war auf dem Schulhof versammelt, zum Ausflug bereit. Gut, ich würde hier wahrscheinlich auch einen Beistrich setzen; aber ich verstehe nicht, ganz abgesehen von meiner sonstigen Verwirrung, warum ich beim Stadtplan-Beispiel die Kommata auslassen darf und warum ich das Komma beim eben zitierten Satz unbedingt brauche. Denn im ersten Fall sind die Kommata wichtig, im zweiten Fall könnte man auf den Beistrich verzichten. Ich lese weiter, lese den Paragraphen 78, traue meinen Augen nicht und muß trotz meines Zustands hilflosester Aporie lauthals lachen. Das, was ich hier erlebe, könnte ein Mark Twain in einer seiner berühmten Geschichten beschrieben haben. Denn was lese ich? Oft liegt es im Ermessen des Schreibenden, ob er etwas mit Komma als Zusatz oder Nachtrag kennzeichnen will oder nicht. Dies betrifft (...) (3) Infinitiv-, Partizip- oder Adjektivgruppen oder entsprechende Wortgruppen. Sinngemäß ist das doch wieder der Paragraph 76! Nur das Wörtchen oft stört und beunruhigt. Wann denn nicht? Keine Erläuterung weit und breit! Ich lese die Beispiele, unter anderen dieses: Sie hatte um nicht zu spät zu kommen ein Taxi genommen. Ich darf aber auch schreiben: Sie hatte, um nicht zu spät zu kommen, ein Taxi genommen. Letzteres, meine ich, sollte wie bisher Pflicht sein. Ich zwinge mich zu ruhigem Denken (jetzt nur ja nicht die Nerven verlieren!) und resümiere: Paragraph 76 belehrt mich, daß die Kommasetzung bei den genannten Wortgruppen grundsätzlich in meinem Ermessen liegt; Paragraph 77 belehrt mich, daß ich bei diesen Wortgruppen das Komma setzen muß, und Paragraph 78 belehrt mich, daß es oft in meinem Ermessen liegt, ob ich das Komma bei diesen Wortgruppen setzen will oder nicht. Wie Kommissar Columbo bei einem schwierigen Kriminalfall bin ich jetzt wieder ganz verwirrt und verstört, und wie Kommissar Columbo grüble ich hartnäckig und ununterbrochen, um die Bausteinchen, die nicht zusammenpassen wollen, zu einem einzigen Bild zu fügen ohne Erfolg. Nach schlafloser Nacht erwäge ich diese Lösung: Dialektik! Paragraph 76 ist die These, Paragraph 77 ist die Antithese, Paragraph 78 ist die Synthese. Ich bin glücklich, lege aber, immer noch ein bißchen unsicher, das Problem am nächsten Tag in der Schule einem sehr gescheiten Kollegen vor. Wie aus der Pistole geschossen präsentiert er mir eine zweite, ungemein überzeugende Lösung! Ja, das ist es! So muß es sein! Es handelt sich um drei verschiedenen Fassungen desselben Paragraphen. Die Reformer konnten sich nicht einigen. Also schrieben sie den Paragraphen dreimal hin.
Wolfgang Illauer Von-Richthofen-Straße 20, 86356 Neusäß
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