Wie kann man nur??
Wie kann man nur die Rechtschreibreform gut finden? Es ist meines Erachtens völlig eindeutig, daß diese Reform in jeder Hinsicht eine Verschlechterung darstellt. Die neuen Regeln sind (insgesamt jedenfalls) komplizierter, schwieriger zu lernen und vor allem schwieriger anzuwenden. Sie führen nicht zu einer neuen Einheitsschreibung, sondern zu einer auf sehr lange Zeit gespaltenen, zerstückelten Rechtschreibung. Millionen von Schreibern werden ihrer bisherigen Kompetenz im Umfang der Reform beraubt, werden in Verwirrung und Frustration gestürzt. Auch die Kinder lernen nicht einfach die neue Rechtschreibung (wer das behauptet, überschätzt die langfristige Wirkung des Schulunterrichts in grotesker Weise), sondern müssen mit zwei oder noch mehr Rechtschreibungen leben und zwischen ihnen bewußt unterscheiden können, wenn sie vermeiden wollen, die Schreibweisen hilflos zu vermischen. Darüber hinaus ist die Reform maximal undemokratisch. Wenn nicht einmal ein Volksentscheid von den Volksvertretern anerkannt, sondern einstimmig abgeschafft wird (ein Novum der deutschen Demokratie nach 1945) wozu sollte man bitte schön noch wählen gehen? Und nicht zuletzt die Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe ...
Die Art, wie Michael Jansen in den Reformregeln interpretierend umherstreift, ist gemessen am Sinn und Zweck von Rechtschreibung ziemlich absurd. Was nützt es, wenn einigen Leuten die Regeln logischer vorkommen, wenn sie in der Praxis schwieriger anzuwenden sind, so daß mehr Fehler entstehen, wie man überall feststellen kann? Was nützt es, wenn die neue Rechtschreibung in einer aktuellen amtlichen Fassung einheitlich in der Schule verwendet wird, einheitlich in einer anderen amtlichen Fassung wenige Jahre später, in einer wieder anderen Fassung einheitlich in vielen Zeitungen, in jeweils noch einer anderen Fassung in der Zeit und in der Neuen Zürcher Zeitung, in einer ganz abgemagerten Form von Universitätsdozenten, unwilligen oder schlecht trainierten Beamten umgesetzt was nützen alle diese partikularen Einheitlichkeiten, privaten Schreibsysteme und so weiter, wo es doch bei der Rechtschreibung um nichts anderes geht als darum, daß eine ganze Sprachgemeinschaft sich über räumliche, zeitliche und berufliche Grenzen hinweg so einig wie möglich ist, wie man schreibt; und der Schulunterricht genau dazu da sein sollte, den Kindern diese von der Sprachgemeinschaft akzeptierte und gemeinsam gepflegte Schriftnorm beizubringen, wobei sie dieselben Schreibweisen, die sie im Unterricht kennenlernen, sowohl in zuvor verfaßten Texten, insbesondere der deutschen Schriftsteller, als auch in ihrer beruflichen und privaten Zukunft wiederfinden und wiederverwenden sollen??
Die private Zustimmung einzelner Personen oder von einer Minderheit innerhalb der Gesellschaft zur Rechtschreibreform ist in diesem ganz selbstverständlichen Zusammenhang der Rechtschreibung schlicht uninteressant. Fast genauso uninteressant ist es, wie sinnvoll oder einfach eine Regel klingt oder erzählt werden kann nach dem Maßstab der Reform selbst (das Schreiben erleichtern) käme es bei weitem überwiegend darauf an, wie einfach die Regel anzuwenden ist.
Dazu nur ein Beispiel: die neue ss/ß-Regel. In der üblichen Formulierung könnte man sie für einfacher halten, sie ist es aber in der Praxis nicht, aus zwei Gründen. Zum einen hatten wir am Silben- und Wortende (sowie wenn noch ein t am Wortende folgt) bisher zwei Möglichkeiten: s und ß. Jetzt haben wir drei: s, ss und ß. Es ist völlig unstrittig, daß dies zu mehr Verwechslungen führt. Das könnte nur dann anders sein, wenn das Kriterium vorher kurzer oder langer Vokal einfacher und intuitiver anzwenden wäre als das Kriterium am Silbenende, also hinten. Das ist aber nicht der Fall, weil es jede Menge Ausnahmen von dieser Zuordnung Länge des Vokals entscheidet über Verdoppelung gibt. Das sieht man auch bei anderen Konsonanten, wo nach kurzem, betontem Vokal oft eben nicht der Konsonant verdoppelt wird und wo oft genug die Länge des Vokals nicht in der Schreibung ausgedrückt wird (vgl. Mond/Mund). Kann ja sein, daß das nicht jedem einleuchtet, es ist aber so. Das zeigt auch die mittlerweile umfangreiche Erfahrung mit Texten in alter und neuer Rechtschreibung: viel mehr ss/ß-Fehler als früher. Auch in den Texten von Herrn Jansen finden sich mit typscher Regelmäßigkeit ss/ß-Fehler (ließt, Verwechslung von dass und das), die man zuvor bei einem Schreiber seiner Fähigkeit nur als seltene Ausnahme kannte.
Ich wähle noch einmal den Vergleich mit dem Sozialismus (Enteignung der privilegierten Klasse, brüderliche Gütergemeinschaft der Arbeiter und Bauern inklusive Planwirtschaft), der eine schöne Theorie ist oder als solche empfunden werden kann. Wer sich nur in dieser Theorie bewegt und vor der Realität die Augen verschließt, der wird auch den Sozialismus in der DDR, in der Sowjetunion, auf Kuba oder sonstwo anpreisen können, auch nachdem beispielsweise in China zehn Millionen Menschen verhungert sind oder in der Sowjetunion die Intelligenz in Schauprozessen liquidiert worden ist. Ich mache da nicht mit, sondern schaue mir an, welche Früchte das System in der Praxis hervorbringt. Dann muß man sagen: Die Marktwirtschaft ist auch nicht ideal, aber sie ist in jeder Hinsicht für die Menschen besser (Wohlstand, Bürgerrechte, persönliche Freiheiten). Denn sie geht einfach von einem realistischeren, besser funktionierenden Weltbild aus.
Im Prinzip genauso ist es mit der schönen Idee, den Kindern das Schreiben zu erleichtern, indem der Staat der Gesellschaft eine Rechtschreibreform aufzwingt. Das Ergebnis wird stets schlechter sein als zuvor, das kann man mit Gewißheit voraussagen, schon allein weil die kompetentesten Schreiber diesem Experiment feindlich und verachtungsvoll gegenüberstehen und weil nur die allerwenigsten Erwachsenen in der Lage sind, sich die Regeln einigermaßen vollständig anzueignen und sich beim Schreiben nach ihnen zu richten. Die große Mehrheit kümmert sich nicht darum oder pfuscht hilflos assoziierend zwischen neu, alt und doppelt falsch hin und her. Deshalb interessiert mich die theoretische Erörterung des Regelwerks, die Herrn Jansens Lieblingsbeschäftigung zu sein scheint, nur am Rande. Wenn ich täglich sehe, wie meine Mitmenschen mit der Reform zurechtkommen, nämlich erwartungsgemäß sehr viel schlechter als mit der bisherigen Rechtschreibung, drängt sich mir bei der Lektüre der Beiträge von Herrn Jansen immer wieder der Kommentar auf: Thema verfehlt.
Wolfgang Wrase München
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