Jean-Marie Zemb: Reform schadet im Ausland
VRS Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege e.V. - Initiative gegen die Rechtschreibreform -
Für die 16 deutschen Kultusminister hätte ja der Austritt der Professoren Horst Haider Munske (Erlangen) und Peter Eisenberg (Potsdam) aus der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung (Mannheim) ein deutliches Warnzeichen sein müssen. Vielleicht hören die Kultusminister, die nicht einmal ausgewiesene deutsche Sprachwissenschaftler um Rat fragten, wenigstens auf die Stimmen aus dem Ausland. Der VRS möchte deshalb auf den Aufsatz von Jean-Marie Zemb aufmerksam machen, dem Verfasser des Büchleins Für eine sinnige Rechtschreibung. Eine Aufforderung zur Besinnung ohne Gesichtsverlust. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1997, 154 Seiten. ________________________________________
Ein Grund mehr, nicht Deutsch zu lernen
Einspruch aus Paris: Die Reform der Orthographie schadet im Ausland / Von Jean-Marie Zemb
Etliche Befürworter der Rechtschreibreform meinen, in Deutschland komme die Änderung von der Basis und aus der Wissenschaft und nicht wie in Frankreich von der Oligarchie der Académie française. Dies trifft aber nicht zu. Die Akademie am Quai Conti schreibt ihr Wörterbuch, zwingt es aber niemandem auf und läßt sich nichts vorschreiben. Vor einigen Jahren hat sie mehreren von Lexikologen vorgeschlagenen geringfügigen Änderungen zugestimmt, aber nicht ohne ausführliche Debatten, insbesondere mit den Schriftstellern. Das betrifft auch die Behandlung des franglais.
In jedem französischen Ministerium gibt es eine Kommission für Terminologie, die nach langen Gesprächen mit Leuten vom Fach Vorschläge bei der Commission générale de terminologie et de néologie einreicht. Diese Kommission, deren Mitglieder ehrenamtlich arbeiten, diskutiert die Vorschläge wiederum gründlich, und zwar wieder mit Leuten vom Fach. Die Generalkommission modifiziert gegebenenfalls die Schreibweise und prüft die Definitionen. Die Vorschläge gibt sie an die Académie française weiter. Diese segnet nun ab, widerspricht oder macht gelegentlich Gegenvorschläge. Das ganze Paket geht dann zurück an die vom Premierminister eingesetzte Commission générale. Diese wiederum hält an ihren ursprünglichen Vorschlägen fest oder gibt die von der Akademie gerügten Ausdrücke zur fachlichen Neuberatung an die Einzelkommissionen zurück. Dieser behutsame, aber liberale Kreislauf wird nur selten mehrfach wiederholt.
Am Schluß der Kette steht dann alle paar Jahre ein Lexikon der neuen Begriffe. Zwischendurch gibt eine eigene Behörde, die Délégation générale à la langue française, Hefte im Taschenformat mit Empfehlungen heraus, etwa zur Sprache der Informatik, des Internets, des Treibstoffs, ja des Sports. Daß diese Bemühungen nicht sinnlos sind, beweist der Umstand, daß sich inzwischen sogar die Fußballsprache von einigen Ausdrücken des ungeliebten franglais gereinigt hat, etwa den Bezeichnungen für Tor und Elfmeter.
Sprachpolitische Instanzen wie der Conseil supérieur de la langue française und wissenschaftliche Forschungsgremien wie das Institut national de la langue française beteiligen sich an allen Überlegungen zum Standort des Französischen. In großen Tageszeitungen würde keine Sprachecke auf philologisches Niveau verzichten und findet deshalb auch in den aufgezählten Gremien Gehör. Diese Prozeduren werden als Form und Norm einer adäquaten Entwicklung der Sprache verstanden.
Zur strafrechtlichen Bedeutung der Lex Toubon, die das franglais betrifft Bußgelder werden an Sprachpflegevereine überwiesen , muß man wissen, daß nicht Französischtümelei Anklage und Urteilsspruch inspiriert, sondern der Verbraucherschutz. Die Werbung soll weder in ihrem Wortlaut unverständlich noch wegen unscharfer Definitionen mißverständlich sein. Daß in Deutschland sogar bei gefährlichen Gegenständen Gebrauchsanweisungen ohne deutsche Fassung geduldet oder unverständliche Übersetzungen beigelegt werden, erscheint einem Franzosen kurios, wie die gegenwärtigen diplomatischen Bemühungen um die Sprachregelung im europäischen Patentrecht zeigen. Die französischen Einrichtungen wollen der Bevölkerung nicht lästig fallen, sondern sie vor Irreführung schützen.
Hinzu kommt, daß in Frankreich Dichter und Schriftsteller nicht als Querulanten gelten, deren Meinung man einfach überhören kann, sondern als Seismographen der Sprache. In Frankreich versteht man deshalb die schroffe Abfuhr nicht, die dieser Zeitung von offizieller Seite entgegenschlug, als sie zum 1. August zur herkömmlichen Rechtschreibung zurückkehrte. Verblüfft hat die Franzosen vor allem das Argument der Kultusminister, man solle doch die neuen Regeln nicht so genau nehmen oder befolgen, da sie ohnehin laufend verbessert würden.
In Deutschland hat sich die Gesamtsituation des sprachlichen Standorts verschlechtert. Das Deutsche, auch das mit englischen Elementen durchsetzte Deutsche, ist dabei, die in kommunikativer Hinsicht wichtigste Eigenschaft eines Dialektes anzunehmen: Auf gleiche Weise Gedachtes wird uneinheitlich geschrieben. Die Vermehrung der Schreibweisen des Deutschen führt dazu, daß es bald nicht mehr zu den gelesenen (und im Ausland gelernten) Sprachen gehören wird. Warum, fragen besorgte Eltern in Frankreich, sollten ihre Kinder Deutsch lernen, wenn die Deutschen es in ihren Chefetagen schon aufgegeben haben?
An dieser Stelle darf wiederholt werden, daß die alte Kommasetzung gewiß nicht vollkommen war. Sie war verbesserungsbedürftig, freilich nicht in der Richtung der Beliebigkeit. Das deutsche Komma ist zweideutig: Es grenzt sogenannte Nebensätze ein und grenzt sogenannte Appositionen aus. Nun bleibt aber der Relativsatz immer ein Relativsatz und wird als solcher durch einen Beistrich signalisiert, ohne daß sofort und eindeutig zu erkennen wäre, ob er eine integrierte Einschränkung oder eine zusätzliche, die Gesamtmenge betreffende Information bringt. Die Verleitung zu Übersetzungsfehlern wird in diesem Zusammenhang zwar selten erwähnt, darf aber in der Debatte über Fehleranfälligkeit eines Schreibsystems eigentlich nicht fehlen.
Ein letztes Beispiel soll verdeutlichen, daß es Neuregelungen gibt, die sowohl innerhalb der Sprache wie bei Übersetzungen zu Fehlern führen. Die Fälle sind hinlänglich bekannt, zumal sie zu kostspieligen Privatversionen der Reform geführt haben und seit Jahren eine unerschöpfliche Quelle für Humor und Satire sind. Gemeint ist die neue Getrenntschreibung, etwa von wiedervereinigt und wohlüberlegt. Läßt sich zu wieder vereinigt und zu wohl überlegt überhaupt noch etwas anführen? Durchaus. In beiden Fällen markieren beide Schreibungen nicht nur subtile Nuancen, sondern verschiedene grammatische Funktionen. Die einheitliche getrennte Neuschreibung scheint dies zu verkennen. In den alten Wörtern wiedervereinigt und wohlüberlegt waren wieder- und wohl- Bestandteile eines selben, einheitlich gedachten Ausdrucks und wurden als solche durch eine im Sinn bleibende gesprochene und geschriebene Ligatur ausgezeichnet. Steht wieder allein wie in Hat er schon wieder den Zug verpaßt? oder in Wann wurde Polen wieder geteilt?, ist es eine Umstandsangabe, ein sogenanntes Argument. Wenn wohl allein steht, kann es beispielsweise durch ja!, tatsächlich oder keinesfalls ersetzt werden, und zwar als Modalisator der Aussage.
Ohne in die Details einzugehen, wird jeder diese Frage verstehen: Haben sich die Reformer die Folgelasten wohl überlegt? Hieße das heute wohl . . . wohl wohl überlegt? Gewiß, die Kennzeichnung von grammatischen Differenzierungen aufzugeben wäre zwar eine arge Verarmung der Sprache, aber als solche keine direkte Fehlerquelle, kann doch jeder Sprachkundige sich den Unterschied denken. Aber wo sollen die den fremdsprachigen Lesern des Deutschen unbekannten Bedeutungen nachgeschlagen werden, wenn sie in keinem zweisprachigen Wörterbuch mehr verzeichnet sind oder soll das zweisprachige Wörterbuch andere und mehr Wörter verzeichnen als das einsprachige?
Der vor Generationen an die Académie française ergangene Auftrag, die Entwicklung der Sprache an ihren Früchten und Folgen zu messen, verband dictionnaire und grammaire, Wörterbuch und Grammatik. Der Sprachwissenschaftler hat längst verstanden, daß es sich bei diesem Werk um eine sogenannte offene Liste handelt, die entsprechend zu behandeln wäre, und zwar ohne die sehr eingängigen falschen Muster. Auch dem Computer müßte zum Analysieren der Getrenntschreibung mitgeteilt werden, ob es sich um einen der zu 99 Prozent nach dem alten System gedruckten Texte handelt, wo wohl überlegt nicht auch wohlüberlegt heißen kann, oder um einen Text, der nach den Absichten der Reformer nur noch wohl überlegt kennt.
So gesellen sich den alten Argumenten ein paar neue hinzu, wenn sich die Neuregler, als könnten sie aus ihrer Sackgasse nicht mehr heraus, weiterhin sträuben, die Grammatik, die Informatik, die Fremdenfreundlichkeit und die wirklichen Lernschwierigkeiten etwas mehr zu beachten. Deswegen verdient die Frankfurter Allgemeine Zeitung keine Rüge wegen vorschnellen Rückfalls, sondern ein Lob wegen besonnenen Fortschritts.
Der Autor ist emeritierter Professor des Collège de France, Mitglied der Commission générale de terminologie et de néologie und der Académie des sciences morales et politiques.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. August 2000, S. 44
VRS Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege Max-Reger-Str. 99, D-90571 Schwaig bei Nürnberg
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