dahin gehend?
Zunächst eine Korrektur. In meiner Gegenüberstellung hätte es statt -> Er hat den Stab wieder gerade gebogen. -> Er hat den Stabe wieder ganz gerade gebogen. natürlich heißen müssen: -> Er hat den Stab wieder geradegebogen. -> Er hat den Stab wieder ganz gerade gebogen.
Damit sich der Beitrag lohnt, noch ein warnendes Exempel für das Prinzip Illauer/Duden. Wenn man sich die Duden-Einträge (1991) für die Verbzusatzkonstruktionen mit dahin... ansieht nämlich:
dahindämmern, dahineilen, dahinfahren, dahinfallen (schweiz.), dahinfliegen, dahingehen, dahingestellt, dahinleben, dahinplätschern, dahinraffen, dahinschleppen, dahinschwinden, dahinsegeln, dahinsiechen, dahinstehen, dahinsterben ,
so fällt auf, daß alle diese regelmäßig auf der zweiten Silbe von dahin betont werden. Das scheint diese Gruppe sehr schön von den adverbialen Konstruktionen mit dahin = dorthin abzugrenzen, die normalerweise auf der ersten Silbe von dahin betont werden, und/oder, je nach Geschmack und Kontext, eventuell auf der Stammsilbe des Verbs bzw. Partizips: dáhin (ge)fahren oder dahin (ge)fáhren oder dáhin (ge)fáhren. Als Kompromiß wählt Duden zwei Betonungen: dáhin fáhren.
So, und nun stellt Duden fest, daß dáhin géhend auf zwei Silben betont wird; jedenfalls wird es auf der ersten Silbe betont dáhin gehend und nicht wie dahíndämmern usw. auf der zweiten. Nach dem Muster der Illauerschen Parallelisierung bzw. Unterscheidungsschreibung gehört also dáhin géhend (oder dáhin gehend) in die getrennt zu schreibende Sippe.
Ich zitiere, die Besucher des Forums wissen es, diese Entdeckung von Professor Ickler, um zu zeigen, wohin diese Zuordnungen nach vermeintlich treffsicheren Unterscheidungskriterien führen können. Hier führt die Zuordnung völlig stimmig zur Getrenntschreibung, also war die Duden-Angabe logisch und sinnvoll. In Wirklichkeit wird dahin_gehend sowohl getrennt als auch zusammengeschrieben, und zwar (laut vielen tausend Belegen bei google) ungefähr zwanzigmal öfter zusammen als getrennt.
Welcher Zugang ist nun sinnvoll, Herr Illauer, Ihrer oder der von Professor Ickler? Bei einem Zahlenverhältnis von eins zu zwanzig könnte man doch ruhigen Gewissens die seltene Variante ganz streichen, wenn einem an Eindeutigkeit gelegen ist und das wäre die getrennt geschriebene Variante. Aber gerade diese wäre nach Ihrer Systematik die einzig zulässige! Dieses Beispiel untermauert noch einmal eindrucksvoll, daß allein das Herausgreifen eines plausiblen Kriteriums noch nicht zu realistischen Ergebnissen führt, sondern daß es nur die Erfinder der Regelung befriedigen kann.
Damit bewegt man sich auf genau derselben Ebene wie Michael Jansen, der ausschließlich auf Regelebene arguementiert. Und zwar so unübertrefflich stur, daß er bei jeder Entgegnung wieder Rechtschreibung und Regelwerk gleichsetzt, auch wenn man hundertmal klargestellt hat, daß man unter Rechtschreibung die üblichen Schreibweisen (und deren inhärente Systematik) versteht und nicht irgendwelche staatlichen oder sonstigen präskriptiven Regeln. Das führt natürlich zu Diskussionen von kafkaesker oder Ionesco-artiger Sinnlosigkeit, wobei dies nicht das einzige Übel an Herrn Jansens krankhaften Pseudoargumentationen darstellt.
Deshalb sollten sich diejenigen, die Professor Icklers Bogen-Einträge zugunsten eindeutiger Kriterien beseitigt sehen wollen, noch einmal fragen, was ihre Vorschläge überhaupt mit Deskription, also mit dem Vorhaben von Professor Ickler zu tun haben sollen. So hatte Herr Riebe mit mehr als zäher Ausdauer versucht, die Getrennt-/Zusammenschreibung soweit wie möglich (oder so weit wie möglich) mit Hilfe des Betonungskriteriums zu regeln, was sich als undurchführbar bzw. als Irrweg erwies, zum Beispiel anhand von zusammen_schreiben. (Hierher, zur Betonung als Kriterium, gehört auch das obige Beispiel: dahin_gehend). Was soll eine solche willkürliche Selektion der Schreibweisen noch mit Deskription, mit Professor Ickler zu tun haben?
Herr Beck (wenn ich mich nicht täusche) wiederum schlug wiederholt eine grammatische Substantivierungsprobe vor, die bei gerade_biegen zu folgenden Ergebnissen führen würde:
gerade_stehen (momentan stehen), das Geradestehen: geht nicht/geht schlecht, also getrennt: gerade stehen gerade_stehen (aufrecht stehen), das Geradestehen: geht, also zusammen: geradestehen für etwas gerade_stehen, das Geradestehen für etwas: geht, also zusammen: für etwas geradestehen
Man sieht, daß man mit dieser Probe zwar auch Kopfzerbrechen bekommt, aber sie scheint immerhin zu einigermaßen plausiblen Ergebnissen zu führen. Die Frage ist aber nicht nur, ob das nicht eine ganz unnötige Erschwernis für alle Schreiber wäre, die sie sich kaum zumuten würden (wozu eigentlich?), sondern auch, ob die Ergebnisse wirklich sinnvoll und realistisch sind. Es würde zum Beispiel zwar nichts schaden, geradestehen = aufrecht stehen immer zusammenzuschreiben, aber was haben wir von dieser Regel, wenn die Schreiber sich nicht danach richten und in diesem Fall, oft ohne jeden Nachteil für den Leser, auch getrennt schreiben können? Wir bekommen also unter anderem viel mehr Fehler, genau wie bei der Reform mit ihrer unglaublich mühsamen Steigerbarkeit/Erweiterbarkeit-Regel.
Die entscheidende Schlußfolgerung ist hier aber: Wenn sich Professor Ickler aus vielen guten Gründen für das deskriptive Prinzip entschieden hat, dann ist er ganz einfach nicht der richtige Adressat für solche Normierungsvorschläge, denn er versteht Norm als das, was üblich ist, auch wenn er im Textfundus mehrere Schreibweisen für denselben Begriff vorfindet. Mit diesem Ergebnis der empirischen Arbeit muß man sich also von vornherein abfinden (wenn man nicht anders kann, als dies als Nachteil zu verstehen), anstatt immer wieder über das Wörterbuch zu urteilen, daß die Vielzahl der als fakultativ festgestellten und deshalb als fakultativ angebotenen Schreibungen nicht hinnehmbar sei.
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß eine durchgehende Differenzierung der Varianten nach anderen Gesichtspunkten als nach der Häufigkeit also im weitesten Sinn nach systematischen Kriterien oder nach subjektiv empfundener Qualität, so wie bei für etwas gerade stehen = unmöglich/häßlich/unsystematisch im Prinzip zu derselben tausendfältigen Inkonsequenz im Wörterverzeichnis und zu allen Nachteilen führen würde, die wir im Duden von 1991 hatten. (Herr Riebe kennt natürlich nur wenige Probleme.) Als einzige Möglichkeit, die Getrenntschreibung bei unserem Beispiel herunterzustufen, erscheint mir, ich bleibe dabei, eine Kommentierung des diskutierten Falls mit maximal meist zusammengeschrieben. Daß dies höchstens psychologisch einen gewissen Fortschritt gegenüber dem bisherigen Eintrag darstellt, nicht aber inhaltlich, habe ich bereits zu zeigen versucht.
Wolfgang Wrase München
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