Mein zweiter Brief an Dové
Wolfgang Illauer Westheim, den 13. August 2000 Von-Richthofen-Straße 20 86356 Neusäß-Westheim
An die NZZ (zu Händen Herrn Stephan Dové)
Betrifft: die Schreibung alles mögliche / alles Mögliche
Sehr geehrter Herr Dové!
Vielen Dank für Ihren Brief vom 31. Juli. Gestatten Sie mir eine kurze Entgegnung. Ich bin äußerst erstaunt über Ihre Unterscheidung (alles mögliche = allerlei / alles Mögliche = viele Möglichkeiten). Denn mein eigenes Sprachverständnis (unterstützt von meinem Wahrig / Deutsches Wörterbuch, 1994) unterscheidet anders! Alles mögliche = verschiedenes, allerlei, vielerlei (das ist richtig). alles Mögliche = alles, was möglich ist, alle Möglichkeiten (nicht: so vieles wie möglich oder viele Möglichkeiten).
Beispiele: Er hat alles mögliche dahergeschwätzt. Sie hat alles mögliche eingekauft. (Hier bedeutet alles mögliche: vieles, verschiedenes, allerlei, vielerlei). Aber: Ich habe (in einer bestimmten Situation, etwa bei einer Ersten Hilfe) alles Mögliche getan. (Hier bedeutet alles Mögliche wirklich und in der Tat: alles, was mir in dieser Situation möglich war, alles, was ich in dieser Situation und mit meinen Mitteln machen konnte. Das Wort alles hat seine volle Bedeutung, sein volles Gewicht). Der Bedeutungsunterschied ist also groß! Nun zu meinem Beispielsatz aus der SZ: Im nun eröffneten Nietzschejahr wird es an Versuchen nicht fehlen, den Philosophen in den Kronzeugenstand für alles Mögliche zu rufen. Sie, sehr geehrter Herr Dové, deuten alles Mögliche mit viel, allerlei, viele Möglichkeiten. Diese Deutung ist denkbar, aber kaum richtig. Der ganze Text, so glaube ich mich zu erinnern, aber ich weiß es nicht mehr sicher, scheint eher die andere Deutung nahezulegen: Nietzsche soll Kronzeuge für alles Machbare sein. Leider habe ich den Text nicht aufbewahrt, deshalb kann ich Ihnen die meiner Meinung nach bessere Deutung nicht beweisen. Aber eines ist doch wohl sicher: Gälte noch die alte differenzierende Rechtschreibung, wäre die Sache klar! Die optische Unterscheidung wäre sehr hilfreich. Man kann auf diese Unterscheidung nicht, wie Sie schreiben, problemlos verzichten. Vergessen Sie bitte nicht, dass in der Aussprache sehr deutlich unterschieden wird. In meinem ersten Beispielsatz (er hat alles mögliche dahergeschwätzt) wird alles mögliche eher unbetont und beiläufig gesprochen. In meinem zweiten Beispielsatz (Ich habe bei meiner Rettungsaktion alles Mögliche getan) werden beide Wörter intensiv betont und langsam gesprochen! Darf ich Sie noch auf einen Fehler in Ihrer Argumentation hinweisen, auf die große Schwachstelle (bitte, seien Sie mir nicht böse) Ihres Briefes? Mit alle Möglichkeiten sei nie gemeint, wirklich alle Möglichkeiten zu bedenken. Wie das? Ich traue meinen Augen nicht! Es kann doch in bestimmten Situationen tatsächlich nur zwei oder drei oder vier Handlungsmöglichkeiten geben. Und die kann ich selbstverständlich alle bedenken. Wenn ich mich beispielsweise in einem Wald verirrt habe, kann ich alles Mögliche (alles, was mir in meiner Lage möglich ist und was das Gelände erlaubt) bedenken und tun, um wieder herauszufinden. Und wenn ich mich vor einer bestimmten Krankheit schützen will, kann ich ebenfalls alles Mögliche tun, um sie nicht zu bekommen. Und wenn ich die Willenskraft nicht besitze, alles Mögliche zu tun, so kann ich wenigstens alles Mögliche bedenken und mir vornehmen. Sie interpretieren den Unterschied weg, um die neue, nicht mehr differenzierende Schreibung zu verteidigen. Aber den Unterschied gibt es. Da beißt die Maus keinen Faden ab!
Nachtrag: Im alten Duden wurde noch unterschieden zwischen das mögliche = alles und das Mögliche = das Mögliche im Gegensatz zum Unmöglichen. Diese Unterscheidung ist überaus fein und spitzfindig. Man kann darauf verzichten.
Bitte, überdenken Sie das Problem noch einmal. Es ist nicht weltbewegend. Glücklich, wer keine anderen Sorgen hat! Aber die differenzierende Schreibung kann für den Leser bisweilen eine wertvolle Verständnishilfe sein. Warum sie ihm verweigern? In der Rechtschreibung geht es nun mal um viele Kleinigkeiten. Und manche Kleinigkeiten können nützlich sein.
Mit freundlichen Grüßen!
Anmerkung: Auf diesen Brief bekam ich keine Antwort mehr!
Wolfgang Illauer Von-Richthofen-Straße 20, 86356 Neusäß
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