Rotkäppchen und der Wolf - ein modernes Märchen
Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, da herrschte ein mächtiger Herrscher über das deutsche Sprachreich. Er trug den schönen Namen Konrad Duden. Mit seinen Buchverlagen hatte er ein großes Vermögen erworben, so daß er sehr reich war und viele Neider hatte. Seine Frau war die deutsche Sprache.
Seine Konkurrenten waren einige Wölfe im Schafspelz, die ebenfalls Verlage besaßen. Sie hatten Konrad schon immer um seine Macht, seinen Besitz und seine Marktbeherrschung beneidet. Jetzt erschien ihnen die Gelegenheit günstig, und sie wollten sein Monopol unter sich aufteilen. Unter Führung des Wolfes Bertelsmann setzten sie sich heimlich zusammen und berieten, was zu tun sei. Ihr Vorbild war der Wolf Al Capone. Der hatte mit Tankstellenbesitzern Verträge geschlossen und ihnen versprochen, ihren Umsatz zu steigern. Sein Lohn sollten 10 Prozent des Umsatzes sein. Daraufhin schickte er seine Bande mit dem Befehl los, die Reifen aller Autos aufzustechen. Künstlich Bedarf zu schaffen und damit den Umsatz zu steigern, das wollte auch der Wolf Bertelsmann. So wurde beschlossen, Konrad Duden seiner Sprache zu berauben. Zu diesem Zweck hatten die Konkurrenten eine eigene Rechtschreibung erfunden und wollten nun ständig Rechtschreibreformen durchführen, um laufend weltweit bessere Geschäfte machen zu können.
Konrad Duden hatte aber eine Enkelin, der die Großeltern bereits einen seiner Verlage vererbt hatten. Man hatte dem kleinen Mädchen wegen seiner schönen roten Haare den Beinamen Rotkäppchen gegeben. Es war Waise und durfte daher seine Großmutter täglich besuchen, um bei ihr seine Hausaufgaben zu machen. So fügte es sich, daß Rotkäppchen an einem schönen Sommertag durch den Wald ging, um seine Großmutter in ihrem Sommerhaus zu aufzusuchen.
Da begegnete ihr der gräuliche böse Wolf Bertelsmann, der ihr gefolgt war. Er hatte sich ein Schafsfell übergezogen, damit das Kind seine Absichten nicht bemerkte. Rotkäppchen ahnte tatsächlich nichts Böses und glaubte, ein ganz gewöhnliches deutsches treues Schaf vor sich zu haben, das, gehorsam, wie Schafe nun mal sind, die neue Rechtschreibung erfolglos übte; denn es hieß damals, die neue Rechtschreibung geschähe nur zum Wohl der Kinder.
Grüß Gott, du liebes Mädchen, wo gehst Du denn hin? fragte der Wolf. Ich besuche meine Großmutter, antwortete das Mädchen. Der Wolf lobte die deutsche Sprache und die neue Rechtschreibung in den höchsten Tönen und sagte, daß er die Großmutter irgendwann auch einmal besuchen wolle, um seine Sprache zu verbessern.
Nachdem der Wolf sich von Rotkäppchen verabschiedet hatte, eilte er schnurstracks zum Haus der Großmutter, fraß die Großmutter auf, zog ihre Kleider an, setzte ihre Brille auf und legte sich ins Bett. Der Wolf hatte natürlich vor, die gesamte Duden-Sippe und insbesondere den viel versprechenden Nachwuchs zu fressen.
Als bald darauf Rotkäppchen eintrat, glaubte es, seine Oma vor sich zu haben und sagte artig: Guten Tag, liebe Oma, wie geht es dir? Der Wolf versuchte, die Stimme der Großmutter nachzuahmen und sagte gekünstelt: Ach, mein liebes Kind, früher, als wir noch selbstständig waren, ging es uns hier zu Lande gut, heute geht es uns wohl wieder ein wenig besser; es wäre aber besser, wenn es uns wieder gut ginge! Da sagte Rotkäppchen erstaunt: Aber Oma, warum sprichst Du heute nicht so wie sonst?- Weißt Du, liebes Kind, wenn ich fernsehe, dann höre ich, wie die Fernsehsprecher sich jetzt nach der neuen Rechtschreibung richten. Das habe ich mir wohl schon ein wenig angewöhnt, erwiderte der Wolf. Aber Oma, was hast du für große Ohren? Damit ich besser hören kann, ob du auch schon nach der neuen Rechtschreibung sprichst. Was hast du für große Augen? Damit ich besser sehen kann, ob du deine Hausaufgaben in der alten oder in der neuen Rechtschreibung machst. Oma, was hast du für eine große Nase? Damit ich besser riechen kann, ob du auch immer die Wahrheit sagst. Was hast du für ein großes Maul? Damit ich alle, die die alte Rechtschreibung weiterschreiben, besser fressen kann, schrie der Wolf Bertelsmann grimmig und verschlang das Rotkäppchen. Dann legte er sich zu Bett, schlief sofort ein und schnarchte ganz fürchterlich.
Da ging draußen der Rechtschreibreform-Jäger Theodor vorbei und dachte: Nanu, warum schnarcht denn die Großmutter so grauenhaft? Er schaute nach und fand den Wolf Bertelsmann im Bett der Großmutter. Er griff zu seiner Flinte und erschoß den Wolf. Danach schlitzte er ihm den Bauch auf und fand die Großmutter und das Rotkäppchen noch lebend vor.
War das eine Freude! Rotkäppchen, die deutsche Sprache und damit auch Konrad Duden waren gerettet. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie heute noch!
Schlußbemerkung: Dem Wolf zog man das Fell über die Ohren. Man stopfte ihn aus und stellte ihn als Warnung für seine Kumpane in einem Museum aus. Das Fleisch aber drehte man durch den Wolf. Seitdem spricht man vom Fleischwolf
Ein verirrtes Schaf
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